Ein Jahr nach der Welt-Aids-Konferenz in Vancouver gibt es Grund zum Optimismus: Bei keiner anderen tödlichen Krankheit kann die Medizin ähnliche Erfolge vorweisen wie jetzt bei Aids. Die Kombinationstherapie, für die inzwischen ein Dutzend Medikamente zur Verfügung stehen, wirkt. Und sie wirkt lange. Wenn nur das Virus möglichst früh und massiv mit mehreren Medikamenten gleichzeitig bekämpft wird. Von Manfred Kriener

Aids muß nicht mehr tödlich sein

Vor einigen Wochen geschah in der HIV-Schwerpunktpraxis von Hans Jäger etwas, auf das der Münchner Aids-Behandler 16 Jahre lang gewartet hatte. Alle 20 Patienten, die an diesem Tag einbestellt worden waren, berichteten ihrem Arzt vor allem eines: Es geht ihnen gut. Einer der Infizierten hatte in den letzten Wochen soviel zugenommen, daß er um ärztlichen Beistand für ein geplantes Abspeckprogramm ersuchte.

Die Münchner Erfahrungen sind kein Einzelfall. Als Koordinator einer bundesweiten Beobachtungsstudie, an der 80 Praxen, Ambulanzen und Aidszentren mit 820 HIV-Patienten aus der ganzen Bundesrepublik teilnehmen, hat Jäger regelmäßigen Austausch mit den Kollegen. Auch dort herrscht Optimismus. Ein Jahr nach der Welt-Aids-Konferenz von Vancouver, auf der erstmals über die neue Kombinationstherapie gegen Aids berichtet worden war, ist die befürchtete Ernüchterung ausgeblieben. „So long, so good“, heißt die neue Lieblingsformel unter US-Ärzten, die die größte Erfahrung haben. „Die Erfolge konsolidieren sich“, sagt Hans-Josef Linkens, Medizinreferent der Deutschen Aids-Hilfe. Hans Jäger wagt sich noch einen Schritt weiter vor: „Wir haben einen solch erheblichen Fortschritt in der Behandlung der Infektion, daß es nicht mehr vermessen ist, vom Fernziel Heilung zu reden.“

Tatsächlich kann die Medizin bei keiner anderen tödlichen Krankheit eine ähnliche Erfolgsbilanz vorweisen wie jetzt bei Aids. Die antivirale Kombinationstherapie, für die inzwischen ein Dutzend Medikamente zur Verfügung stehen, wirkt. Und sie wirkt lange. Innerhalb eines Jahres ('96 gegenüber '95) ging die Zahl der gemeldeten Todesfälle in Deutschland um 25 Prozent zurück. Einen noch deutlicheren Rückgang erwarten die Behandler in diesem Jahr. Dann könnten New Yorker Verhältnisse erreicht werden. In der US-Metropole hat sich die Zahl von 20 täglichen Aidstoten zum Jahresbeginn 1996 auf nur noch 10 Todesfälle am Jahresende halbiert, mit weiter fallender Tendenz.

Die typischen schweren Begleiterkrankungen von Aids – Fachbegriff: „opportunistische Infektionen“ – sind noch deutlicher auf dem Rückzug. Bei der tuberkuloseähnlichen Mykobakteriose etwa registriert Jäger eine Abnahme der Erkrankungsrate um 75 Prozent binnen Jahresfrist. Bei der aidstypischen Zytomegalie-Infektion, die häufig die Augennetzhaut angreift und die Patienten schlimmstenfalls erblinden läßt, nahmen die Neudiagnosen um mehr als 60 Prozent ab.

Besonders auffällig aber ist das Verschwinden des eigentlichen Übeltäters. Das winzige Aids-Virus, das im Körper jedes Infizierten täglich wenigstens 10 Milliarden Nachkommen produziert hat, ist im Blut vieler Patienten nicht mehr nachweisbar. Während der Kombinationstherapie sinkt die „Viruslast“ unter den kleinsten noch meßbaren Wert von 500 Viren je Milliliter Blut.

Jetzt versuchen Ärzte und Wissenschaftler die Behandlung weiter zu optimieren. Noch gibt es keinen goldenen Standard für die HIV-Therapie. Noch immer ist unklar, wann der ideale Zeitpunkt für den Beginn der Medikation ist und welche Kombination für den Start die günstigste ist. Die großen Vorgaben kommen aus den USA: „Hit the virus hard and early!“ Mit dieser Maxime, das Virus möglichst früh und möglichst massiv aus verschiedenen Medikamentenröhrchen gleichzeitig zu beschießen, ist der amerikanische Aidsforscher David Ho berühmt geworden.

Ho korrigierte zugleich antiquierte Vorstellungen vom Krankheitsverlauf. Die alte Theorie: In aller Stille befällt das Virus den menschlichen Körper, schlummert mehrere Jahre unerkannt, bis es plötzlich aggressiv wird und das Immunsystem lahmlegt. Hos neue, inzwischen plausible These: Vom ersten Tag der Infektion an tobt ein heftiger Kampf zwischen Virus und Immunabwehr. Und gerade in der frühen Phase der Infektion ist die Virusproduktion besonders hoch. Deshalb fordert der US-Virologe eine möglichst schnelle Intervention mit mehreren Medikamenten gleichzeitig. Dies soll die Bildung von resistenten Erregern verhindern, dem nach wie vor größten Problem. Ho experimentiert innerhalb einer kleinen Patientengruppe inzwischen sogar mit einer Kombination von bis zu fünf Medikamenten gleichzeitig.

Aber schon mit der in deutschen Aidspraxen üblichen Kombination aus zwei oder drei Medikamenten gelingt es in der Regel, das Virus unter die Nachweisbarkeitsgrenze zu drücken. Das Dilemma: Werden sofort drei Medikamente verordnet, muß der Patient täglich bis zu 18 Tabletten nach einem zeitlich strengen Plan einnehmen. Diesen Horror will man vor allem bei denjenigen Infizierten vermeiden, die sich, im Anfangsstadium der Krankheit, noch gesund fühlen. Ist der Leidensdruck niedrig, wird erfahrungsgemäß ohnehin bei der Einnahme geschlampt.

Also beginnen die meisten Praxen mit nur zwei Medikamenten, die beide das Schlüsselenzym für die Virusvermehrung hemmen: die Reverse Transkriptase. Erst wenn die Zweierkombi keinen Erfolg hat und die Zahl der Viren wieder über 10.000 je Milliliter Blut steigt, wird „geswitched“, die Strategie geändert. Dann wird eines der beiden Ursprungsmedikamente ausgetauscht und ein drittes Medikament kommt dazu: ein Proteasehemmer. Diese Stoffklasse mit bisher fünf Medikamenten blockiert die Wirkung der Protease, ein Enzym (Biokatalysator), das die Ausreifung und letzte Formgebung des Virus einleitet. Insgesamt 12.000 Patienten werden in Deutschland derzeit antiviral behandelt, davon 5.000 mit der Dreifach-Kombitherapie und den neuen Protease- Hemmern. Die Kosten hat die Weltgesundheitsbehörde WHO vergangene Woche auf 1.000 bis 1.500 Dollar pro Patient und Monat geschätzt, also ca. 25.000 Mark im Jahr.

Je erfolgreicher die Therapie, desto bedrückender wird die Tatsache empfunden, daß 90 Prozent aller Infizierten und Kranken sie niemals bezahlen können und deshalb an Aids sterben. In der neuen weltweiten Todesursachenstatistik der Weltbank liegt Aids an 30. Stelle. In der Prognose für das Jahr 2020 rutscht die HIV-Infektion aber schon an die 9. Position, noch vor Malaria. Die Experten der Weltbank erwarten also selbst in 20 Jahren, wenn Aids in den Industrieländern längst heilbar sein dürfte, noch ein Massensterben in Asien und Afrika – ausschließlich aus ökonomischen Gründen.

Noch aber ist Aids auch bei uns nicht besiegt. Die große Hoffnung der Infizierten richtet sich jetzt auf das Jahr 1999. Dann, nach drei Jahren Kombinationstherapie, soll der Erreger, wenn er sich an die mathematischen Modelle amerikanischer Aidsforscher hält, aus dem Körper der antiviral behandelten HIV-Patienten komplett und für immer verschwunden sein.

Alle Versuche, das strikte Medikamentenregime schon jetzt zu lockern und eine „Erhaltungstherapie“ mit weniger Pillen zu erproben, sind prompt fehlgeschlagen. Nach Reduzierung der Medikation „ging die Virusmenge sofort wieder hoch“, bedauert Jäger. Offenbar haben in den Lymphknoten und in anderen Organen noch ausreichend Viren überlebt und sich unter dem schwächeren Beschuß sofort wieder vermehrt.

Zentrale Frage: Wie lange muß die Kombinationstherapie durchgehalten werden? Und wie lange ertragen dies Psyche und Organismus der Patienten, die schon jetzt unter den Nebenwirkungen leiden? Um das Wort „lebenslänglich“ zu vermeiden, heißt die bisherige Antwort auf die erste Frage: „zeitlich unbegrenzt“ – mit einer guten Portion Hoffnung auf 1999.

Hoffnungen setzen Ärzte und Infizierte zudem auf ein weiteres Medikament: Interleukin 2. Es wurde zur Bekämpfung von Krebsmetastasen entwickelt. IL-2 stimuliert das Immunsystem, regt die Vermehrung und Reifung der T4-Helferzellen an, deren Zahl bei Aids dramatisch in den Keller geht. Während der Kombitherapie erholt sich das Immunsystem zwar ein wenig, aber die T4-Zellen erreichen längst nicht das Niveau von Gesunden. Mit IL-2, das zeigen erste Versuche, kann die Immunlage weiter verbessert werden. Allerdings kommt es anfangs wieder zu einem leichtem Anstieg der Virusmenge. Und: Das Medikament ist teuer, die Behandlung kostet im Monat etwa 1.800 Mark.

So erfreulich die Erfolge der neuen Aidstherapie auch sind, in der deutschen Ärzteschaft hat sich das neue Konzept noch längst nicht überall herumgesprochen. „Da werden noch immer munter Monotherapien verordnet“, weiß Hans-Josef Linkens, „viele Leute bekommen eine schlechte Behandlung.“Häufig werde die Virusmenge und damit die Wirksamkeit der Therapie nicht kontrolliert, Resistenzentwicklungen blieben unerkannt. Wer von den neuen Medikamenten profitieren will, der sollte, so der Rat der Deutschen Aids-Hilfe, einen erfahrenen Behandler aufsuchen.