Viel Zeit für Aluminium

■ Bremer Künstlerinnen präsentieren ein interdisziplinäres Doppelkonzert

Seit die Künste existieren, gibt es auch eine Beziehung zwischen ihnen. Und immer wieder gibt es in der neueren Geschichte die Beziehung der bildenden Kunst zur Musik, weil ihre Abstraktheit nicht als Mangel, sondern als Vorteil angesehen wird. Die Bremer Filiale der Gesellschaft der deutsch-österreichischen Künstlerinnen (Gedok) versucht sich nun nach Jahren der Abstinenz an einem interdisziplinären Projekt: Unter dem Titel „Grenzzeiten“interpretieren und improvisieren die Komponistin Siegrid Ernst, die Blockflötistin Dörte Nienstedt und die Organistin Katja Zerbst am Donnerstag und Sonntag zum Objekt „Klangsäule“der Bildhauerin Anne Baisch.

Anne Baischs über zehn Jahre alte Säule entstand durch Zufall: Bei Außenarbeiten mit Aluminium fuhr plötzlich der Wind durch die Platten. Und sie spürte wie „irrsinnig der Klang war. Auf einmal ging mein Kinderwunsch nach einem Xylophon in Erfüllung“. Das Erstaunliche für Anne Baisch war, daß das Entdecken der Töne bei ihr „eine kindliche Freude“auslöste. Für die Komponistin Siegrid Ernst hatte dies eine ganz andere Bedeutung: Sie komponierte 1988 für die Klangsäule das Stück „Wege“, das beim Heidelberger Komponistinnenfestival aufgeführt wurde. 1989 schrieb Isolde Lookh Texte zur Klangsäule, die in Bremen zu hören waren.

Und beim Weltmusikfest in Köln 1991 improvisierten Dörte Nienstedt und Siegried Ernst zum Kunststück. Sie hat also schon eine glanzvolle Geschichte, die Klangsäule und daß ihre Objekte auch klingen, das hat die Bildhauerin seitdem nicht mehr losgelassen.

Bei jeder Improvisation liegt die Frage nahe, welche strukturellen Verbindlichkeiten denn im Bezug zum konkreten Objekt auszumachen sind. Die „Klangsäule“hat die Idee zum Thema des Konzertes „Grenzzeiten“gegeben. Denn die Nachhallzeiten der Aluminiumgehänge der über zwei Meter hohen und einen halben Meter dicken Säule haben die Künstlerinnen zum Nachdenken über den Zeitbegriff angeregt: „Das Verklingen markiert hier eine offene Zeit, im Gegensatz zum Klavier, der Orgel oder auch der Blockflöte“, so Siegrid Ernst. „Ich lege schon Kurven von Dynamik, Akkorden oder Einzelklängen fest, und die Beziehung zur Klangsäule verstehe ich als die unerkennbare Grenze zur Stille, die unsere Struktur prägen wird“, sagt Siegrid Ernst, deren Improvisation den Namen „Klangsaum der Stille“trägt.

Dörte Nienstedt, eine in Sachen experimenteller Musik erfahrene Spielerin, und Katja Zerbst beschreiben die Entstehung des experimentellen Konzertes: „Wir wollten nicht irgendetwas. Wir wollten ein Thema, und wir wollten interdisziplinär arbeiten“. Angeregt durch Anne Baischs „Klangsäule“begaben sich die beiden Musikerinnen auf die Suche nach Musikstücken über den Begriff der Zeit: Zum Beispiel Klaus Hubers „Ein Hauch von Unzeit“, geschrieben 1972. „Das Stück führt heraus aus allem gemeinsam Pulsierenden“sagt Siegrid Ernst. „Jedes Instrument bekommt seine Eigenzeit und so gibt es immer wieder einen anderen Schluß“, ergänzt Dörte Nienstedt. Während Frans Geysens „Woekering tot an de grens“für Blockflöte und Cembalo einen mechanistischen Ablauf von Zeit markiert, sind in Rodion Shchedrins „Echos“für Blockflöte und Orgel in den alten Formen wie „Echos und Kanons Symbole für die Zeit zu finden“, so Katja Zerbst philosophisch.

Und mit Erwin Koch-Raphaels für Dörte Nienstedt geschriebene „Grenzzeit“für Großbaßflöte solo hat es noch etwas anderes auf sich: „Vieles ist auf diesem Instrument überhaupt nicht mehr machbar“, sagt Dörte Nienstedt, „44 Teile sind in je 15 Sekunden zu spielen. Man arbeitet wie verrückt, aber man hört davon gar nichts. Dieses Moment der Utopie ist total spannend an dem Stück“.

Ute Schalz-Laurenze

Anne Baischs „Klangsäule“steht am Donnerstag in der Immanuelkirche in der Elisabethstraße in Walle (Konzert um 20 Uhr) und am Sonntag, 22. Juni, in der evangelischen Kirche in Oberneuland (Konzert um 17 Uhr).