Die Geheimnisse des modernen Antiquariats

■ Wie ein Machwerk namens „Das Geheimnis der Menschenform“auf einen Kaufhaus-Wühltisch gerät

In einem Kaufhaus gibt es kaum eine schönere Abteilung als das moderne Antiquariat. Wenn die Verlage ihre Lager räumen, fallen Preisbindung und Hemmungen. Und an den Wühltischen kommt es zu ergreifenden Szenen. Wie sich die Hände der Leseratten in die Tiefen graben und so zeitlos schöne Titel wie „Neue Soziale Bewegungen“oder die „Kunst des Liebens“oder „Fortschritt durch Verzicht“ans Tageslicht befördern, ist ein bewegendes und vor allem ansteckendes Schauspiel. Allein einem taz-Leser verging kürzlich im modernen Antiquariat der Galeria Kaufhof (ehemals Horten) das Lachen. Statt eines Cramer, Butterwegge oder Fromm hielt er ein Buch in den Händen, das nach seiner Ansicht weder dorthin noch auf den Wühltisch gehört. Der Titel: Burger-Nöthling, „Das Geheimnis der Menschenform“. Erschienen im Wuppertaler Burger-Verlag. Der Preis im Antiquariat: 7,95 Mark.

Im grünen Leineneinband und mit Stempelaufdruck 1920 sieht es antiquarisch aber nicht alt aus. Ohne Eselsohr und ohne Spuren von Benutzung oder Vergilbung scheint es gerade erst erschienen oder aus luft- und lichtdichtem Lager geholt worden zu sein. Nicht 80, aber 40 Jahre muß es nach dem Copyright-Hinweis, Druckjahr 1958, überdauert haben, bis es auf dem Wühltisch landete.

„Auf dem Gebiete physiognomischer Forschung überschritt Burger mit seinen Arbeiten das vorwissenschaftliche Stadium“, schreibt der Mitherausgeber Dipl.-Ing. Walter Nöthling im Vorwort zur 6. Auflage. Schon 1912 sei Robert Burger-Villingen (1865-1945) „durch plastometrische Messungen zu einem überzeugenden statistischen Material“gekommen. Und was die Menschen zwei Jahre nach dem 3:2-Sieg der deutschen Fußballnationalmannschaft über Ungarn zu lesen bekamen, hat's in sich.

Im Kapitel „Der Mund und der Umfang der Gefühlskraft“heißt es: Ist der Mund groß und sind die Lippen stark, dann sprechen wir von einer weichen Natur. Sobald ein so veranlagter Mensch in Erregung gerät, wird er in ungezügelte Stimmung versetzt. Als typisches Beispiel hierfür kann der sehr große Negermund gelten. Oder: Wie sehr die Gefühlskraft die Neger beherrscht, schildert Bouton zutreffend: „Die Aufmerksamkeit des Äthiopiers richtet sich ausschließlich auf Gegenstände, die sich sehen, hören und fühlen lassen.“Denn: Der sehr breite Mund läßt stets auf eine sehr starke Gefühlskraft und auf umfassende sinnliche Bedürfnisse schließen. Sind nicht auch ausgesprochene seelisch-idealistische Anlagen vorhanden, dann wird bei solchen Menschen immer mit Gefühls- und sinnlichen Schwächen zu rechnen sein. Im Kapitel „Die Größe der Gesichtsorgane und die Lebensart der Seele“heißt es zu entsprechenden Illustrationen: Sind Augen, Nase, Mund im Verhältnis zum Gesichtsumriß groß, dann ist hieran eine maßlose geistig-seelische-gefühlsmäßige Lebensart zu erkennen... Sie neigen zu kannibalistischen Gelüsten.

„Ziemlich starker Tobak“, findet der Buchkäufer, und: „das ganze auch noch unkommentiert“. Und das bleibt es auch, denn von Seiten der Galeria Kaufhof sah sich gestern niemand zur Stellungnahme in der Lage. Lassen wir uns also vom Buchhändler Horst Baraczewski in das Geheimnis des modernen Antiquariats einweisen: „Das können die gar nicht kontrollieren“, sagt der. Palettenweise kämen die Bücher in die Kaufhäser, und weil Schund zu jeder Zeit produziert worden sei, seien solche Funde auch jederzeit möglich.

Glaubt man Baraczewski, gibt es mehrere Varianten des modernen Antiquariats. Wenn die Verlage erstens gelegentlich ihre Lager leeren und die Kosten für die Papierent-sorgung sparen wollen, verkaufen sie die Bestände an Großantiquariate weiter. Die wiederum verkaufen an die Kaufhäuser, die wiederum weiterverkaufen. Zweitens gibt es Verlage, die eigens für dieses Geschäft produzieren. „Das sind Reise-, Koch- oder Kinderbücher mit zeitlosem Inhalt.“Und auch bei einem Titel wie „Das Geheimnis der Menschenform“griffen die Leute doch sofort zu. Die Herkunft des Corpus delicti wird jedoch unbekannt bleiben. Den Burger-Verlag zu Wuppertal gibt es nicht mehr. ck