Das Warten auf eine Gemeinde

Pastor Jehsert der St.-Marien-Kirche in Ueckermünde kämpft mit dem Atheismus  ■ Von Annette Kanis

Der sonnenbebrillte Muskelprotz wirbt für die „Nacht der Weiber“. Menstrip, Oben-ohne- Barmänner und Konfettischlacht – das neongrüne Plakat der Ueckermünder „Was sonst“-Disco lockt mit Versprechungen. An der Litfaßsäule vor der St.-Marien-Kirche sind weitere Freizeitattraktivitäten angeschlagen: Motorradausstellung, eine Schiffsreise mit Einkauf „billiger als in Polen!“. Wenige Schritte entfernt wartet der gläserne Infokasten der Evangelischen Gemeinde. „Einmal wöchentlich Seele putzen“ rät das Kirchenmaskottchen mit Turm auf dem Kopf und Kirchenschiff auf dem Rücken. In der Hand hält die Figur eine überdimensionale Zahnbürste. Das schlichte Plakat in DIN-A4-Größe lädt zum Gottesdienstbesuch ein.

Rund 50 Gemeindemitglieder gehen sonntags zur Andacht in die beiden Kirchen von Ueckermünde, einer Kleinstadt nahe der Ostsee im Norden von Mecklenburg-Vorpommern. So sind es fast weihnachtliche Verhältnisse an diesem sonnigen Junisonntag. Fast 150 Menschen sind zur Feier der goldenen Konfirmation gekommen, darunter auch 18 der 150 Konfirmandinnen und Konfirmanden aus den Jahrgängen 1946/47. Festlich gekleidet sitzen sie im Chorraum von St. Marien. Pfarrer Jürgen Jehsert beginnt zu predigen – 20 Minuten, frei aus dem Kopf. Nicht ohne Strenge spricht der 55jährige über Kirchenferne gestern und heute, vor und nach der Wende, skizziert Ausreden und Gründe für christliches Desinteresse und erinnert an die Bedeutung der Kirche für die demokratische Opposition in der DDR.

Später, als die Gesangbücher und blümchenbedruckten Kissen von den harten Kirchenbänken wieder eingesammelt sind, jeder einzelne Gottesdienstbesucher mit Pfarrer-Handschlag verabschiedet wurde und sich die kleinen Gesprächsgruppen auf dem Kirchenvorplatz verlaufen haben, wird Jehsert noch einmal über die Zeit der Wende in Ueckermünde sprechen. Ein junges Berliner Paar auf Urlaub möchte die St.-Marien-Kirche besichtigen und erhält während der einstündigen Führung einen kunstgeschichtlichen und gesellschaftlich-politischen Überblick vom Pfarrer persönlich.

„Dank der Wende haben wir endlich Elektroheizung unter den Bänken.“ Gegen Ende 1989 kamen plötzlich so viele Menschen in die St.-Marien-Kirche, daß die Lübecker Partnergemeinde mit einer Spende aushalf. Denn mit 3.000 Menschen beim Gottesdienst konnte Pfarrer Jehsert nicht, wie sonst im Winter üblich, in den beheizbaren kleinen Raum im Gemeindehaus ausweichen.

Jürgen Jehsert lehnt lässig an der Kirchenbank, auf der auch die frische Farbe nicht den Holzwurm verbergen kann, und spielt mit dem schweren Kirchenschlüssel. Des Talars entledigt, plaudert er lebhaft von seiner Wendebiographie. „Ich bin reingekommen in die Geschichte wie die Jungfrau zum Kinde.“ Anfang Oktober 1989 hatte er als Superintendent noch „aus Angst vor der Stasi“ ein anberaumtes Friedensgebet untersagt. Kurz darauf organisierte er schon Lautsprecheranlagen für Außenübertragungen und trat als moderater Vermittler und resoluter Wortführer auf. Unter den 12.000 Einwohnern von Ueckermünde wurde er bekannt „wie ein bunter Hund“.

Einige Sonntage waren die Gottesdienste voll. Doch nach Maueröffnung und Vereinigung wurde es wieder still hinter den Kirchenmauern. Trubel löste Anfang der neunziger Jahre noch einmal die Aufdeckung der Stasi-Verstrickung des zweiten Ueckermünder Pastors aus. Für Jehsert war das eines seiner schlimmsten Erlebnisse. Das Vertrauen vieler Gemeindemitglieder sei dadurch erschüttert worden. Sein ehemaliger Kollege bekam als einer von zwei Pfarrern der Pommerschen Landeskirche ein Disziplinarverfahren und wurde zwei Jahre vom Dienst suspendiert. Seine Frau singt immer noch im Kirchenchor.

Heute reden die Kirchgänger nur noch wenig von der Stasi- Sache. Die Gemeinde hat mit aktuellen Problemen zu kämpfen. Finanznot schnürt ihr den Atem ab. Ueckermünde zählt zu den ärmsten Regionen Deutschlands. In der Buchhandlung am Marktplatz ist das Schaufenster zugestellt mit Ratgebern über „Bewerbung und Vorstellungsgespräch – professionell und kompetent“. Die offizielle Arbeitslosigkeit liegt bei 25 Prozent, die Dunkelziffer wird auf 60 Prozent geschätzt. Da fallen nicht viele Kirchensteuern ab.

2,5 Millionen Mark sind notwendig für die Sanierung der Kirche. Der Engelreigen an der Decke ist verblaßt, die Farbe blättert ab, die Dachbalken sind vom Schwamm zerfressen, der Turm ist einsturzgefährdet. Im benachbarten Gemeindehaus, wo sich Krabbelkinder, Konfirmanden und Senioren im selben Raum treffen, konkurrieren frisch gepflückte Blumensträuße und selbstgebastelte Plakate mit dem abgewetzten Linoleumboden, den braungestreiften Vorhängen und den Rissen in der Wand. Im vergangenen Jahr mußte die Gemeindesekretärin entlassen werden. Kantor, Küsterin und die für Kinder- und Jugendarbeit zuständige Katechetin wurden auf Kurzarbeit gesetzt.

Schwer hat es die 2.000-Mitglieder-Gemeinde auch mit dem atheistischen Umfeld. 84 Prozent der Ueckermünder Bürger sind nicht getauft. Das von Hauptstraßen umkreiste evangelische Karree mit Kirche, Gemeinde- und Pfarrhaus steht zwar mitten im Stadtkern, doch dem öffentlichen Leben ist die Gemeinde entrückt. So träumt Pfarrer Jehsert von einem volkskirchlichen Verständnis, wie es in Westdeutschland über 40 Jahre hinweg habe wachsen können. Lamentieren die West-Pfarrer über die Gleichgültigkeit der kirchlichen Karteileichen, wäre Ost-Pfarrer Jehsert froh über ein wenig Kontakt bei Taufe, Konfirmation und Hochzeit. „Durch diese Fixpunkte bleibt wenigstens etwas Kirchennähe erhalten.“ Er sitzt in seinem Amtszimmer, gestikuliert lebhaft und sinniert über den Gottesdienstbesuch. „Wenn doch nur zehn Prozent der Gemeindemitglieder kämen!“ Durch die Kinder würden immerhin „neue Kräfte nachwachsen“. Am Regal mit der antiquarischen Bibelsammlung hängt eine Karikatur. Eine alte Frau wird am Kirchenportal von einem Anschlag begrüßt: „Bei Gottesdienstwunsch bitte zweimal klingeln.“

Damit es soweit nicht kommt, bastelt die Gemeinde an neuen Konzepten für die Jugendgruppen. Katechetin Christine Bartels und Kantor Andreas Lehnert singen und spielen mit rund 50 Kindern und Jugendlichen biblische Musicals. „Über den Umweg der Musik versuchen wir kirchliches Leben zu vermitteln“, sagt Lehnert. Dieses Frühjahr ließen sich immerhin neun Jugendliche taufen. Mit ihren Aufführungen bei Volksfesten und im Krankenhaus suchen Bartels und Lehnert den Kontakt nach außen, „um die Ablehnung gegenüber der Kirche etwas abzubauen“, so Bartels. „Bei der ganzen Skepsis, die unserer Gemeinde entgegengebracht wird, habe ich manchmal das Gefühl, wir sind eine Sekte.“