Die Drecksarbeit machen

Der britische Erfolgsautor Will Self erzählt in seinen Werken von Sex, Drogen, Gewalt und Marketing. Sein Roman „Spass“ ist wenig spaßig  ■ Von Gunnar Lützow

Will Self ist ein vielbeschäftigter Mann. Mit einer Viertelstunde Verspätung trifft der drahtige Hüne zum Interviewtermin ein – der Dreh mit einem ZDF-Team hat länger gedauert als geplant. Schnellen Schrittes besorgt er sich noch ein Bier, stöpselt den Akku seines Handys in die nächste Steckdose und baut in aller Ruhe einen Joint zusammen. Das Gespräch mit einem der letzten jungen poètes maudits der alten Schule, der sich unlängst öffentlichkeitswirksam an Bord von John Majors Wahlkampfjet mit Heroin in der Tasche erwischen ließ, kann beginnen.

Höflich und korrekt beantwortet der neue Popstar am britischen Literaturhimmel, der bereits 1992 für sein Debüt „The Quantity Theory of Insanity“ für den John Llewlyn Rhys Prize nominiert wurde, 1993 den Geoffrey Faber Memorial Prize erhielt und im selben Jahr mit Autoren wie Hanif Kureshi auf der alle zehn Jahre neu erstellten Liste der „Best young British novelists“ landete, alle Fragen nach seinem neuen Roman „Spass“. Der wurde vom Verlag nicht nur vollmundig als sprachliche Achterbahnfahrt und „Glanzstück des dreckigen magischen Realismus“, sondern auch als „Rundumschlag gegen sämtliche vermeintlich positiven Errungenschaften der modernen Zivilisation“ angekündigt, um den grassierenden Hunger nach neuer Verwerflichkeit zu bedienen.

Aber was soll man sich unter einem dreckigen magischen Realismus vorstellen? Will Self erklärt: „Nun, der Begriff bedeutet genau das, was er bedeutet. In den späten Siebzigern und frühen Achtzigern, als lateinamerikanische Schriftsteller wie Carlos Fuentes, Gabriel Garcia Márquez oder Mario Vargas Llosa wieder modern wurden, gab es die Vorstellung einer Schule des magischen Realismus – eine phantastische, aber schöne Beschreibung der Imagination. Mitte der Achtziger wurden in Amerika sogenannte „dreckige Realisten“ wie Richard Ford, Jayne Anne Phillips und Raymond Carver sehr beliebt. Was ich mache, ist ein Zwischending: Zwar schreibe ich über imaginäre Dinge und Orte, zu denen uns nur die Vorstellungskraft trägt, aber das auf sehr krasse und realistische Weise.“

Indes war es wohl nicht nur die Vorstellungskraft, die den 38jährigen Oxford-Absolventen mit jener verkaufsfördenden street credibility ausgezeichnet und zu den Schauplätzen seiner Werke getragen hat, von denen leider bis jetzt nur „Cock & Bull“ und „Spass“ auf deutsch vorliegen. Denn Will Self, Sohn eines Politikwissenschaftlers und einer Verlagsangestellten, hat eine Vita, die drastisch illustriert, wie fließend die Grenzen zwischen verlängerten Ferien in der toughen Boheme von heute und einem klassischen Highway to Hell geworden sind. Er begann bereits im Alter von zwölf Jahren Haschisch zu rauchen, landetete nach diversen Ausflügen ins psychedelische LSD-Universum bei Speed und Kokain und hing mit achtzehn an der Nadel.

Doch Drogengebrauch stellt für ihn als Vertreter einer Generation von Outsidern, die alle euphorischen Hoffnungen auf spontane Erleuchtung höchstens von ihren Vorgängern kennt und sich durch die große Geste demonstrativer Selbstzerstörung nur mehr selbst ein Bein stellt, keine vom Rückzug aus dem täglichen Leben begleitete Identitätskrücke mehr dar. Self arbeitete nebenbei als Karikaturist und Journalist für renommierte englische Tages- und Wochenzeitungen, studierte Philosophie und spielte in einer Punkband.

Aus dieser Zeit, in der er wohl mehr Probleme mit der Drogenfahndung als mit mißliebigen Rezensenten hatte, resultiert seine Skepsis gegenüber all den Autoritäten, die ihm beim Konsum seiner inzwischen reduzierten Dosis in die Quere kommen. Bittet man ihn, seinen Joint nach dem Interview zu rauchen, legt er los: „Das ganze Gerede über Drogen ist doch größtenteils scheinheilig. Ich habe, was das angeht, einiges vom Schlimmsten gesehen, und von daher das Recht, über diese Dinge zu reden – und das mit den Einstiegsdrogen ist Quatsch. Wenn jemand als Jugendlicher Rollschuh läuft und später in der Gosse endet, würde doch auch niemand dazwischen einen Zusammenhang sehen, oder?“

Ebenfalls aus den Tagen, als das, was ihn aufhielt, ihn noch nicht aushielt, hat er sich seine markige Fuck-you-Haltung bewahrt, die sich in Statements wie „Ich schreibe meine Bücher nicht, damit sie deine Tante in ihrem Salon liest – also verpiß dich!“ ausdrückt. Allerdings ist in „Spass“ alles zu kalkuliert auf den Schock angelegt, um schocken zu können. Trotz eines atmosphärisch gelungenen Einstiegs erzählt der Roman langatmig und gestelzt von der ziemlich unsentimentalen éducation eines Londoner Marketingexperten, in dessen Brust – ach! – gleich zwei Herzen schlagen. Daß eines davon ein geregeltes Leben führt, während das andere gar Böses tut – wer wäre darauf gekommen?

Der Autor hingegen ist da anderer Meinung: „Es ist gar nicht meine unbedingte Absicht, Leute zu schocken. Und die Leute, die dieses Buch als extrem und aufwühlend empfanden, haben es wohl nicht ganz gelesen. Schließlich kommt explizite Gewalt nur ganz am Rande vor – und dort ist sie in hochliterarische Sprache verpackt. Das eigentlich Aufwühlende an diesem Buch ist etwas ganz anderes: Man weiß nie, ob der Protagonist wirklich ein Psychopath ist oder nicht. Man muß es ihm schon glauben. Jeder ist unglaubwürdig, und letztendlich weiß man nicht, ob er überhaupt irgend etwas getan hat oder ob alles nur in seinem Kopf stattgefunden hat. Was ich eigentlich damit sagen wollte ist, daß wir alle uns in die Abgründe unseren Seelen begeben müssen. Es gibt diese gesamtgesellschaftliche Leidenschaft für Serienmörder, für körperliche und geistige Auflösung. Und das regt die Leute wirklich auf – daß ich sie damit konfrontiere.“

Doch außer hartgesottenen Splatter-Fans, denen schon „American Psycho“ zu öde war, wird wohl niemand dieses Buch als prinzipiell grundfriedlich empfinden. Denn braucht der Protagonist, nachdem er stundenlang einen Hund mit Zimmermannsnägeln und brennenden Streichhölzern zu Tode gefoltert hat, neue Kleider, geht er nicht bei Marks & Spencer einkaufen. Er überfällt statt dessen einen Passanten, den er nicht nur brutal würgt, sondern auch mit zwei kräftigen Fingern durch die Augen ins Gehirn stößt, „die zerfetzten Netzhäute auf den Kuppen“.

Die naheliegende Vorstellung, daß im Angesicht der Entstehung einer in den europäischen Metropolen zu beobachtenden „Kultur der Armut“, wie sie der amerikanische Anthropologe Oscar Lewis bei den Bewohnern lateinamerikanischer Favelas beschrieb, die in „Spass“ ausführlich dargelegte Absurdität von Marketingstrategien schon bei der Erstveröffentlichung vor vier Jahren kein zwingend relevantes Thema für einen sich als zeitgenössisch verstehenden Autor mehr sein muß, drängt sich ihm nicht auf. Locker, aber entschieden rechtfertigt er die Auswahl dieses Themas: „Marketing sollte jeden interessieren, zumindest jeden, der sich mal eine verdammte Waschmaschine, einen Rasierapparat, ein Auto oder eine Packung Zigaretten gekauft hat. Man mag sich mit dem Dünkel des Intellektuellen natürlich über solche Dinge erheben – was allerdings kompletter Blödsinn ist. Außerdem gibt es in England derzeit einen neuen Mini-Boom, in London eröffnen neue große Restaurants wie das Oxo-Tower, von dem man einen phantastischen Blick über die City hat. Neulich war ich dort, und es war wie vor zehn Jahren. Geschäftsleute, Werbeleute – Ian Wharton ist zurück, und er tut es wieder. Plus ça change, plus c'est la même chose! Ob das Buch allerdings in 25 Jahren noch Leser finden wird, muß man sehen. Texte haben ein seltsames Leben, sie sind wie erwachsene Kinder, die das Haus verlassen haben und selber schauen müssen, wie sie klarkommen.“ Für den Fall, daß „Spass“ nach seinem kurzfristigen Kultstatus in Selfs Heimatland wieder in der Bedeutungslosigkeit verschwindet, da der eine oder andere Leser dann doch lieber Wirtschaft und Soziales als Narziß und Psyche zwischen den Buchdeckeln fände, hat er inzwischen bereits kräftig nachgelegt. „Great Apes“, sein in diesen Tagen bei Bloomsbury erschienener neuer Roman, markiert nicht nur eine Kehrtwendung von einer in klassischer Fin-de- siècle-Manier ausgewalzten Nabelschau zum großen gesamtgesellschaftlichen Tableau am Ende eines Jahrtausends – die Geschichte des Malers Simon Dykes, der eines weniger schönen Morgens erwacht und feststellen muß, daß allein er sich nicht in einen Schimpansen verwandelt hat, ist sogar einigermaßen packend erzählt. Und obwohl Self nicht nur hemmungslos bei Kafka, Huxley und anderen stibitzt, sondern auch aus seiner gelungenen Kurzgeschichtensammlung „Grey Area“ und der Erzählung „The Sweet Smell of Psychosis“ kurzerhand Protagonisten, Orte und Ideen recycelt, ist „Great Apes“ eine gelungene, unterhaltsame und erstaunlich moralische Satire auf die Rückentwicklung menschlichen Verhaltens bei gleichzeitiger Beschleunigung sozialer und technologischer Entwicklungen.

Dies als Repolitisierung von Literatur oder gar als bewußte politische Intervention zu deuten, greift jedoch ins Leere: Als ehemaliger Marxist und Anarchist hält Self von den Hoffnungen auf einen moderaten Wandel, der den von Verelendung massiv bedrohten Teilen der Bevölkerung etwas Besseres als Jugendgefängnis, Wohnungsnot und die Aussicht auf lebenslange Arbeitslosigkeit anbieten könnte, nicht viel: Tony Blairs New Labour wertet er als populistische Anbiederung an konservative Wählerpotentiale, die keine grundlegende Veränderung herbeiführen könne.

Gut zu wissen wäre allerdings, was Will Self, den aufsteigenden Aussteiger mit dem radikalen Arbeitsethos, eigentlich umtreibt. Mit dem Pathos eines echten Malochers, der aus der Gefährlichkeit und Schwere seiner nicht respektierten, aber dennoch benötigten Arbeit seinen Stolz gegenüber den besseren Angestellten mit weißem Kragen, sauberen Händen und wohlsortiertem Bücherregal zieht, kommentiert er lakonisch: „Es ist eine dreckige Arbeit – aber einer muß es ja machen.“

Will Self: „Spass“. Roman. Aus dem Englischen von Klaus Berr. Luchterhand Verlag, München 1997, 416 S., 42 DM