Zauberkunde, Märchenstunde

■ Andrea Breth inszenierte Kleist an der Schaubühne und Jürgen Gosch Peter Handke am Deutschen Theater

Seit fünf Jahren ist Andrea Breth künstlerische Leiterin der Schaubühne, und was den Habitus angeht, ist sie so etwas wie der Thomas Pynchon der Regie. Scheu heißt auch bei ihr: Mag nicht mit Reportern sprechen oder öffentlich diskutieren, sei es über Strauß und Handke oder gar Kulturpolitik. Oder wird sie nur nicht gefragt?

Diese Zurückhaltung ist bedauerlich, kränkend aber ist sie nicht. Denn die 45jährige Breth, die in der Schaubühne höchstens zwei Inszenierungen im Jahr macht, arbeitet im Gegensatz zu den meisten Berliner Regie-Intendanten auch nirgendwo anders. Ein auratisches Moment ist hier also stets gewährleistet, und auch sonst wird nichts dem Zufall überlassen.

Kleists Erstlingsdrama, „Familie Schroffenstein“, das am Samstag Premiere hatte, beginnt in düsterer Schraffur. Die Schauspieler bewegen sich parallel zu einer niedrigen Mauer, die ihre Füße verdeckt. Hall liegt unter ihren Stimmen, und beim schnellen, fast mechanischen Sprechen nehmen sie weniger zueinander Kontakt auf, als daß sie den Text den Zuschauern zur Kenntnis bringen. Auch prozessionieren Kapuzenbemäntelte mit flackernden Kerzen, und im Halbdunkel sieht man auf der Mauer einen kleinen Sarg mit einem wächsernen Etwas darin.

Das Prinzip der Zweidimensionalität

„Familie Schroffenstein“ ist in der Tat kein heiteres Stück, aber ein wüst groteskes. Wie sich zwei Stämme einer Familie abschlachten, weil sie fürchten, der jeweils andere trachte nach ihrem Leben, um an das jeweilige Vermögen zu kommen, zum Teufel mit dem Erbvertrag. Das Haus Rossitz und das Haus Warwand mit jeweiligen Vasallen. Jeronimus, ein Verwandter mit wechselnder Loyalität. Sowie Ottokar und Agnes, ein die Stämme verbindendes Pärchen – Romeo und Julia im schwäbischen Ritterland, wo es natürlich auch Höhlen gibt und zauberkundige Frauen, die Kindern kleine Finger abschneiden. Es geht um Mißverständnisse und die Konstruktion von Wirklichkeit, um Macht und Ohnmacht, Trieb, Wahn, Irrtum und Bewußtsein.

Zunächst erscheint Andrea Breths Inszenierung, erscheinen die linearen Bewegungen der Darsteller sowie ihr formalisiertes Spiel ziemlich rätselhaft. Durch die Bühne von Gisbert Jäkel jedoch erschließt sich alles bald als Prinzip einer Zweidimensionalität, die der mittelalterlichen Bildästhetik entspricht. In den gotisch verwinkelten und verschachtelten Räumen gruppieren sich die Figuren auf dem steil nach hinten ansteigenden Boden scheinbar unperspektivisch. Wie auf Illustrationen des höfischen Lebens steht einfach höher, wer weiter hinten steht.

Zweidimensional ist auch die Zeichnung der männlichen Gegenspieler Rupert und Sylvester durch Thomas Thieme und Wolfgang Michael. Rupert ist die treibende Kraft im Familienkrieg und doch auch nur Opfer seines Verfolgungswahns. Wie Thieme anfangs Rache schwört für seinen angeblich von Sylvester ermordeten Sohn, wie er auch seiner Familie Racheschwüre abpreßt, zeigt genau diese doppelte Haltung, ohne sie psychologisch ergründen zu wollen: Von Haß geschwächt, taumelnd in seiner eigenen Wut, spricht es mehr aus Rupert, als daß er selber spricht.

Auch Wolfgang Michael als Sylvester steht im Banne der Vernichtung, obwohl er sich durch Begütigung zunächst zu entziehen versucht. In der gedehnten, monotonen Sprechweise Michaels liegt ein trancehaftes Moment der Unschuld, aber auch eines der Verschlagenheit. Dies eigentlich ist die stärkste schauspielerische Leistung des Abends: Wie Michael seinen Sylvester mit einem Mundzucken verdächtig macht, wie er dessen Passivität so zieht, daß sie als geheime Aggressivität kenntlich wird.

In völliger Verblendung gegenüber der äußeren Realität betreiben die Kleistschen Figuren traumwandlerisch ihre Selbstvernichtung – ein Rätsel des Lebens, durchaus. Daß Andrea Breth allerdings auch die begleitenden Probleme der subjektiven Wahrnehmung und der politischen Manipulation nicht in heutiger Komplexität und Ironisierung, sondern als Holzschnitt faßt, macht die Sache auf Dauer ziemlich mühsam. Sie erschrickt gleichsam jedesmal, wenn sie zeigen muß, daß einer nur sieht, was er will, oder gar etwas sagt, was er nicht meint! Am Schluß etwa, wenn die Väter versehentlich ihre eigenen Kinder umgebracht haben, ganze Familien trauernd bei der falschen Leiche hocken und erst der blinde Opa den Irrtum aufklärt, schreit eigentlich alles nach Monty Python. In der Schaubühne aber wird auch das stilisiert vergrübelt, Komik kommt zwar trotzdem auf – unfreiwillig, wirklich schade.

Die Verweigerung der Eindimensionalität

Die zeitgenössische Offenheit, die hier fehlte, wurde indes am nächsten Abend überraschenderweise im Deutschen Theater gezeigt. Überraschend, weil Jürgen Gosch Peter Handkes „Zurüstungen für die Unsterblichkeit“ inszeniert hat, ein Stück, das Claus Peymann bei der Uraufführung im Februar als Zaubermärchen verklebte und das man im Verdacht hatte, nichts anderes verdient zu haben. Es handelt sich um eine Parabel für das Weltgeschehen. Von der Emanzipation eines unterdrückten Volkes wird erzählt, von der Wiederkehr der Phantasie in die Wirklichkeit und, daran anschließend, von der Möglichkeit einer neuen Gesellschaftsordnung.

Sympathischerweise gibt es immer zwei Wahrheiten bei Handke: Einer ist stark im Großen, aber schwach im Kleinen, das Böse läßt sich wegbeamen, kommt aber wieder, und so fort. Unsympathischerweise ist das Ganze sprachlich jedoch mit einem derart altväterlichen Poetizismus aufgedonnert, daß man eigentlich gar nicht dabeigewesen sein will.

Der 53jährige Gosch nun, der seit fünf Jahren ständiger Gastregisseur am Deutschen Theater ist, geht mit den „Zurüstungen“ erfreulich souverän um, vor allem, indem er die bei Handke wörtlich vorgegebene Eindimensionalität meidet. Handkes „Raumverdrängerrotte“ nämlich soll in diversen albernen Kostümen und mit „Raumschluckgeräten“ oder „1D-Brille“ auftreten. Das aber gibt es bei Gosch ebensowenig wie folkloristische Elemente oder sonstige poetische Verstopfung.

Ein goldener Vorhang begrenzt die runde Spielfläche (Johannes Schütz) mit den geforderten Accessoires: türloses Portal, Kutsche etc., ein glänzender, goldener Vorhang, der den Text von vornherein gut gelaunt und mit sanfter Ironie auf ein Podest verweist, von wo aus er dann spröde, langsam und irgendwie fragend ertönt. Damit kein Mißverständnis aufkommt: Gosch tut dem Text nichts an, Handke bleibt Handke, da muß man schon durch.

Aber Gosch holt das Ganze runter. Nimmt einiges Pathos raus. Schafft eine Anordnung mit Versuchen in verschiedenen Richtungen: Fritz Schediwy dreht als „Volk“ mit lispelndem Manierismus auf, Horst Lebinsky unterspielt seinen „Idioten“ dagegen völlig. Es werden Äpfel gegessen, Raumverdränger Kay Müller jongliert mit einer Brechstange, ein Marionettenvogel überquert die Bühne, gefolgt von einem echten Hund, und in der Pause wird der tätige Aufbau des Staates gezeigt, graben Schauspieler und Bühnenarbeiter im Sand.

Die vier Stunden werden auch an diesem Abend ziemlich lang. Selbst wenn Thomas Dannemann die Erlöserfigur Pablo in unsicherer Normalität zeigt und Naomi Krauss als Wandererzählerin so ungekünstelt und charmant ist, so normal und nett, wie man mit einem Text überhaupt sein kann, in dem es heißt: „Und wenn trotz allem der Riß sich auftut, werde ich da sein und dich ganzerzählen. Die Liebe ist da. Ich bin dir grün.“ Petra Kohse

„Familie Schroffenstein“ von Kleist. Regie: Andrea Breth. Wieder am 20./21., 24.6., 19.30 Uhr, Schaubühne

„Zurüstungen für die Unsterblichkeit“ von Peter Handke. Regie: Jürgen Gosch. Wieder am 1./2.7., 19 Uhr, Deutsches Theater