Der Rückentwicklungsroman

Wo fühlt sich Gott zu Hause? „Ivan und Abraham“ von Yolande Zauberman ist ein Buddy-Movie, das mit der Ikonographie des jiddischen Kinos der dreißiger Jahre experimentiert  ■ Von Anke Westphal

Ein kleines Dorf an der polnisch-russischen Grenze in den dreißiger Jahren. Ivan ist Christ und Abraham Jude. Ivan lebt bei Abrahams Familie und spricht jiddisch. Abraham: „Sie sagten, ich dürfte nicht dein Freund sein.“ Ivan: „Warum? Weil ich ein Goi bin?“ Abraham: „Weil du ein Goi bist.“ Die Kinder beschließen, zusammen fortzulaufen.

Yolande Zauberman ist Pariserin und Tochter jüdischer Einwanderer. Sie hat drei Filme gedreht, immer über ethnische Exklusionen: ihr vierter, „Clubbed To Death“, kommt demnächst in die Kinos. „Classified People“ ist die Geschichte einer Familie im Südafrika der Apartheid, „Caste Criminelle“ dreht sich um eine geächtete Kaste im kolonialistischen Indien. Mit „Ivan und Abraham“ wollte Zauberman „eine Welt wiedererstehen lassen, die von der Barbarei des zwanzigsten Jahrhunderts vernichtet wurde“. „Um den Lernprozeß eines Juden zu verstehen, der 1950 als Kind von Einwanderern geboren wird, müßte man eine neue Gattung erfinden: den Rückentwicklungsroman“, hat Alain Finkielkraut 1984 in „Der eingebildete Jude“ geschrieben.

„Ivan und Abraham“ ist somit die Projektion einer Nachgeborenen, die von dem, was sie erzählt, ausgeschlossen bleibt, weil es nicht mehr existiert. Eine ungemein komplexe Projektion: In den zwei Stunden sind so viele Filme angelegt wie Puppen in einer Matrjoschka: Man öffnet eine und findet eine neue. „Ivan und Abraham“, schon 1993 gedreht, ist ein Film über Kinderfreundschaft, einer über die Rebellion gegen die Familie, aber auch einer darüber, wie die Ablösung von den eigenen ethnischen Wurzeln scheitert. Es ist ein Film über politische und subjektive Identitäten und Gemeinschaften und dann noch einer über das Verschwinden von Gott und Religion. Abraham will kein Judenjunge mehr sein, weil er unsichtbar werden möchte – aufgehen in Ivans Gemeinschaft. Er weigert sich zu beten; in der Synagoge provoziert er die betenden Männer mit einer Trillerpfeife. Doch nachdem Abraham sich die Schläfenlocken abgeschnitten, die Yarmulka abgesetzt und den Kaftan mit einem alten Pullover vertauscht hat, wird er für einen Zigeuner gehalten: Sein Teint, seine Augen sind zu dunkel. Zauberman hat, Spiel mit der Doppelprojektion, Abraham von „einem Zigeunerjungen“ (Roma Alexandrowitsch) spielen lassen: Der einen Legende ledig, wird Abraham sofort eine neue angehängt. Abrahams Schwester Rachel belügt Vater und Großvater. Sich gegen die erstickende Tradition auflehnend – sie soll gegen ihren Willen verheiratet werden –, behauptet sie, mit einem Mann geschlafen zu haben, denn sie will ausgestoßen werden, um mit Aaron, ihrer großen Liebe, fortgehen zu können. Abrahams Mutter weigert sich, russisch zu sprechen, obwohl sie es durchaus versteht – ihr Mann setzt auf moderate Assimilation. Aaron schließlich, ein junger Kommunist, hat die Gemeinschaft des auserwählten Volkes gegen eine andere Gemeinschaft von Auserwählten getauscht. „Schmarx“ nennt Aarons Vater das. Soll man nach Palästina oder wie Aaron und Rachel ins Exil nach Frankreich gehen? „Von nun an werden wir für immer Akzent sprechen“, sagt Rachel zu Aaron. Der Riß in der Zeit erfaßt noch die kleinste Zelle im letzten Winkel; Tradition oder Glauben werden ihn nicht kitten. Nur der alte Nachman (endlich wieder da und großartig: Rolan Bykow), der letzte Pfeiler des alten Volkes, ist fassungslos: „Wo soll sich Gott mehr zu Hause fühlen als in Polen?“

Noch heute leben Menschen in Polen, die jiddisch sprechen, ohne Juden zu sein. Der babylonische Turm: In Zaubermans Film wird vor allem jiddisch gesprochen, aber auch russisch, polnisch und roma. Gedreht wurde unter anderem in einem der letzten Schtetl, die es noch gibt – in der Ukraine. Letztlich verhandelt „Ivan und Abraham“ ein Paradoxon – die schützende Undurchlässigkeit von Kollektiven und ihre gleichzeitige Auflösung. Zaubermans Film kapriziert sich dabei auf eine Bildsprache, die man ungeniert Bildbandsprache nennen kann: durchgängiges Schwarzweiß, die Nah-Totalen überwiegen. Die dadurch vermittelte Unmittelbarkeit ist völlig artifiziell – es ist ein bißchen, als wäre die Regisseurin körperlich eingeschlossen, wenn Aaron und Rachel, das Liebespaar, sich umarmen. Das Tempo des Films trägt und illustriert unterschiedliche Arten von Intimität: wild wirbelnd im Glück wie in der Verzweiflung, dann wie eingefroren in Schmerz und Schock. Ich habe mich immer wieder an „Image before My Eyes“, diesen umstrittenen Bildband über die untergegangene Welt der galizischen Juden, erinnert gefühlt, in dem jede Szene ganz Wehmut und schöne Melancholie ist, nie jedoch Armut, Dunkelheit oder Schmutz. Bei Zauberman ist das umgekehrt. Selbst wenn Yolande Zauberman dörfliche Massenszenen aufnimmt, etwa das Markttreiben mit Juden, Russen, Polen und Zigeunern, vermeidet sie jede Folklore. Tradition und Armut, zumal von innen und dazu aus der Sicht derer erzählt, die ihnen entkommen wollen, sind nicht pittoresk. Zaubermans Schtetl ist auch optisch ein Labyrinth, ein Gewirr aus Gassen, Tordurchgängen, verborgenen und verbotenen Gartenpfaden, schmalen unsicheren Brücken.

Der Judenhaß in „Ivan und Abraham“ wird nie offen ausgespielt. Er bleibt unsichtbar, glänzt kurz in einem Blick auf, macht hier ein Kinderspiel eine Spur zu angriffslustig und läßt dort einen Scherz zu derb ausfallen, überzieht das Geschehen jedoch wie mit einem klebrigen Film. Antisemitismus, so ist man geneigt zu glauben, entscheidet sich in der Grauzone – er funktioniert genau wie das Gerücht, an dem immer ein Körnchen Wahrheit sein soll, wie der Scherz, der eine maskierte Verletzung ist. Zauberman unterlegt den Judenhaß im Dorf mit der üblichen sozialwissenschaftlichen Erklärung, die den Antisemitismus als Ersatzhandlung interpretiert. Die Ärmsten gehen auf die Ärmsten los, nämlich Russen und Polen auf Juden und Zigeuner, und irgend jemandem irgendwo ist das recht. Das bliebe ohne die letzten Unwägbarkeiten und Unerklärlichkeiten, die unwillentliche Komplizenschaft von Opfern und Tätern, purer Agitprop. Einmal stürzt Abraham beim Rennen, plötzlich drückt ein blonder Mann mit seinem Fuß Abrahams Rücken in den Staub. Das geschieht vollkommen beiläufig, ohne Pathos – jeder weiß, was gemeint ist. Der Fuß gehört Andrej, einem russischen Arbeiter – wenig später wird er die Juden vor der aufziehenden Pogromstimmung warnen. „Flüchte, sofort“, rät er Nachman, als er nachts heimlich zu ihm schleicht, doch dann bricht es aus ihm heraus: „Zeig mir dein Haus!“ brüllt er, verzweifelt, gleichzeitg beschämt: vollkommen zerrissen. Auf dem Tisch in Nachmans Haus brennen noch die Schabbat-Kerzen, stehen die Reste einer Mahlzeit. Der Jude ist genauso arm wie er.

Einige Nachsätze zu Musik und Schauspielern, denn ich komme einfach nicht hinter den Trick mit der subjektiven Nähe, die so gar nicht widerlich gefühlig wird. Diese Art von Nähe überhaupt schaffen zu können ist schon mal exzeptionell, also selten, im Film mehr als in der Literatur, denn in – sagen wir – Arthouse-Filmen wie „Ivan und Abraham“ hängt alles ab von der Körperlichkeit der Schauspieler, von Gesichtern, vom Tempo. Für Zaubermans Begabung spricht schon die Fähigkeit, so brillante – und schamlos vergessene – Schauspieler wie Rolan Bykow oder Waleri Iwtschenko aufs neue vor die Kamera zu holen und es zu verstehen, vom eigenen Talent berauschte Akteure wie den Polen Daniel Olbrychski zu lenken. Zauberman nutzt einerseits Arvo Pärts kühlen Minimalismus („Tabula Rasa“), andererseits die Balladen von Wladimir Wissotzky, die sich durch größte Verve und stärkste Gefühle auszeichnen. (Immerhin hat sich der Stürmer und Dränger Wissotzky, einst Marina Vladys Ehemann, – inoffizielle Info – totgesoffen.) Vielleicht gibt es ja gar keinen Trick. Als Ivan und Abraham ins Dorf zurückkehren, qualmt es aus den toten Fensterhöhlen des Schtetls. Ein alter Mann, Aarons Vater, hat überlebt, doch er ist todmüde.

„Ivan und Abraham“, Regie: Yolande Zauberman. Mit Roma Alexandrowitsch, Sascha Jakowlew, Rolan Bykow, Wladimir Machkow, Daniel Olbrychski u. a., Frankreich 1993 (!) 115 Min.