Die Demokratie braucht die Erinnerung

Historiker aus fünf Ländern debattierten in Lissabon über das, was die Zeiten der Diktatur im kollektiven Gedächtnis hinterlassen haben, über Erinnerungskultur und über den Umgang mit dem „Aktenerbe“  ■ Aus Lissabon Christian Semler

Zwei Faktoren garantieren Glück im Alter: gute Gesundheit und ein schlechtes Gedächtnis. Trifft diese Weisheit vielleicht sogar auf Gesellschaften im Umgang mit ihrer Vergangenheit zu? Das war eine der Fragen, um die es auf einer internationalen Konferenz vorletzte Woche in der portugiesischen Hauptstadt Lissabon ging. Das dortige Goethe-Institut hatte unter dem Generalthema „Diktatur und Erinerung“ Spezialisten aus fünf ehemaligen Diktaturen, aus Portugal, Spanien, Italien, Polen und Deutschland eingeladen.

Ein weiter Bogen wurde gespannt von der Geschichtsschreibung über kollektives Reden bzw. Beschweigen der Vergangenheit bis zur praktischen politischen Frage: Akten zu oder Akten auf – und wenn ja, für wen? Erwartungsgemäß stellte sich heraus, daß Vergleichen immer gut, aber Gleichsetzen fast immer unmöglich ist. Die deutsche Delegation, zusammengesetzt aus Abgesandten des Bundesarchivs, der Gauck-Behörde sowie Lutz Niethammer, dem Meisterdenker der „Oral History“, enthielt sich unserer Nationaluntugend, der Belehrungswut. Die Konstruktion der Gauck- Behörde, die Entstehungsgeschichte und der liberale Zugang zum Bundesarchiv wurden konzis dargelegt, freie Akteneinsicht der Wissenschaftler und (im Fall der Gauck-Behörde) der Opfer demokratisch fundiert.

Vom „deutschen Modell“ wurde aber, wenn überhaupt, nur in kritisch-historischem Zusammenhang geredet. Denn der offene, selbstkritische Geist im Umgang mit zwei Diktaturen kam nicht so ganz aus eigener Einsicht. Er verdankt sich ursprünglich den wachsamen Augen der Siegermächte und der Opfer. Erst später, in den 60er Jahren, mit der Rebellion der 68er gegen das Schweigen der Nazi-Väter, wurde die „Internationalisierung“ deutscher Geschichtsbetrachtung als Gewinn begriffen. Wie auch die Einrichtung der Gauck-Behörde ursprünglich von den DDR-Bürgerbewegten als Chance gesehen wurde, die „kalte Amnestie“ der Zeit nach dem Ende des Nazismus nicht zu wiederholen.

Die Beschäftigung mit der eigenen Geschichte nach 1945 in beiden deutschen Staaten, so Lutz Niethammer, wird nur verstehbar, wenn man sie in die Systemauseinandersetzung Ost/West einordnet. Wo dieser Gegensatz fehlte oder weggefallen war, wie in Süd- oder Osteuropa nach dem Ende der Diktaturen, wurde die jeweilige innenpolitische Konstellation bestimmend für die „Aufarbeitung“ der Vergangenheitt. Also keine deutsche Exportwerbung.

Warum eigentlich Lissabon? Außer der immerwährenden Schönheit der Stadt gab es einen konkreten politischen Anlaß. Es geht um die Freiheit des Aktenzugangs in Portugal. Seit die Sozialisten dort wieder an der Macht sind, hat sich der äußerst restriktive Zugang zu den Dokumenten der klerikal-faschistischen Diktatur gelockert. Im Nationalarchiv „Torre do Tombo“ ist im Prinzip jetzt beispielsweise einsehbar, was von den Materialien der portugiesischen Stasi, der PIDE/DGS, übrigblieb. Denn der Aktenbestand wurde von der PIDE selbst, von an Erpressung interessierten Kreisen oder von Andenkenjägern seit den Tagen der Nelkenrevolution geplündert. Eine Spitzelkartei existiert nicht mehr. Ist dieses Archiv immerhin geordnet, so drohen die Aktenberge der diktatorischen Massenorgsanisationen zu verschimmeln.

Aber nicht der Mangel an Geld und Personal steht im Zentrum der Auseinandersetzung in Portugel. Unter Berufung auf zwei Gesetze aus den Zeiten der Diktatur weigert sich die Militärführung, die Akten des Kolonialkrieges herauszurücken, den Portugal in den 60er und frühen 70er Jahren gegen seine afrikanischen „Besitztümer“ führte. Diese Akten, aus denen rekonstruierbar ist, mit welchen barbarischen Methoden der „lusitanische Popanz“ seine Besitzstände verteidigte, sind nur für ausgewählte Zwecke und Personen verfügbar. Ein von Professor Fernando Rosas, dem Vorkämpder an der Archivfront, als kriminell qualifizierter Willkürakt. Dies um so mehr, als es gerade die Erfahrung des Kolonialkriegs war, die die jungen Offiziere zur Aprilrevolution von 1974 trieb.

Fast 25 Jahre nachdem das Hauptquartier der PIDE sich der „Bewegung der Streitkräfte“ und einer riesigen Volksmenge ergab, ist es um den faschistischen estado novo und seine demokratischen Widersacher ruhig geworden. Einige Agenten der PIDE fielen damals der Volkswut zum Opfer, die zahlreich verurteilten Folterer sind heute amnestiert. Den Opfern der Diktatur sind nur wenige Museen und Denkmäler gewidmet. Antonio Costa Pinto, politischer Wissenschaftler aus Lissabon, führt diesen Umstand darauf zurück, daß es an gesellschaftlichem Engagement, an „zivilgesellschaftlicher“ Initiative mangele.

Nach dem April 1974 wurden der Geheimdienst und die faschistischen Organisationen verboten, den Staatsapparat und das Militär traf eine allerdings nicht sehr konsequente Säuberung. Aber hat dieser Bruch, diese offene, damals von einer Massenbewegung getragene Abrechnung, wirklich dazu beigetragen, das demokratische Bewußtsein zu schärfen, etwa im Verhältnis zum iberischen Nachbarland?

Die Entwicklung in Spanien nach Francos Tod liest sich wie ein Kontrastprogramm zur portugiesischen Erfahrung. Unter der Regierung von Adolfo Suarez, dem ehemaligen Führer der faschistischen Falange-Jugend, vollzog sich der Übergang zur parlamentarischen Demokratie ohne Volkserhebung, ohne Abrechnung, ohne Katharsis. Ein risikoreiches Manöver unter der Leitung eines Politikers, der seinen ehemaligen faschistischen Gesinnungsgenossen hinwarf: „Das Wort Verrat läßt mich kalt.“

Die Koalition von Kommunistenchef Santiago Carillo bis zu den Geschäftsleuten des katalanischen Nordens bewerkstelligte den friedlichen Übergang. Und abgesichert wurde er von Juan Carlos, der sich keineswegs als „Idiotenkönig“, sondern als ebenso fähig wie mutig herausstellte. Manuel Perez Ledesma, Historiker aus Madrid, brachte auf den Punkt, warum diese Strategie des unblutigen Wegs zurück zur Demokratie Erfolg haben konnte: „Das soziale Imaginäre ist der Bürgerkrieg. Er lebt noch heute, Franco ist vergessen“.

Dieses Trauma des Bürgerkriegs brachte es mit sich, daß Frühpensionierung das Schlimmste war, was einem ehemaligen Henkersknecht zustoßen konnte. „Nie wieder Bürgerkrieg!“ – deshalb keine Strafen, keine Säuberungen. Selbst die Symbole des triumphierenden Franquismus blieben bis in die 80er Jahre unberührt. Dann aber, als die Straßen umbenannt, als die Denkmäler der Franco-Zeit beseitigt wurden, traten nicht die Heroen des republikanischen Kampfs an ihre Stelle, sondern vollständig unbekannte liberale Politiker des 19. Jahrhunderts.

Hippolito della Torre Gomez, ebenfalls aus Madrid, wies auf dem Seminar nach, daß die in der späten Franco-Zeit propagierten Werte wie Ordnung, ökonomische Dynamik und sozialer Friede auch das Massenbewußtsein der Nach- Franco-Zeit bestimmten. Die Franquisten hatten behauptet: Für Spanien gibt es zu unserem Regime keine friedliche Alternative. Als die parlamentarische Demokratie den Übergang ohne Blutvergießen zustande brachte, verschwand der Franquismus in einem schwarzen Loch. 1975, ein Jahr vor Francos Tod, wurde von 80 Prozent der Befragten über die Zeit seit 1939 ein positives Urteil abgegeben. Zehn Jahre später waren es nur noch 15 Prozent. (Zum Vergleich: eine internationale Untersuchung über die Wertung von Diktaturepochen erbrachte für Griechenland 1985 60 Prozent positive Wertung der Periode von 1967 bis 74).

Folge des unblutigen Übergangs war, daß die Unterdrückungsorgane der Franco-Zeit nicht aufgelöst, zum Teil nicht einmal reformiert worden sind. Erst recht gibt es keinen freien Zugang zu den Archiven, selbst nicht zu den offiziösen, wie dem persönlichen Archiv Francos. Das rundum positive Resümee der spanischen Gelehrten, „in Portugal war die Reform blocckiert, in Spanien reformierte sich das Regime selbst“, stieß in der Diskussion auf Widerspruch. Wirken die mentalen Strukturen des Franco-Regimes nicht gerade deshalb nach, weil sie verblassen? Oder war umgekehrt der Übergang für den Franquismus gerade deswegen zerstörerisch, weil er friedlich vor sich ging? Fernando Rosas akzentuierte die „portugiesische Linie“: „Man redet bei euch in Spanien nicht über Archive, nicht über Gedenkstätten. Bleibt das so, dann hat das Franco-Regime einen späten Sieg davongetragen.“

Die spanische und der portugiesische „Weg“ waren stets präsent gewesen in den Diskussionen des polnischen demokratischen Lagers unter dem Realsozialismus. Schon in den 70er Jahren lehnte sich Adam Michniks „friedlicher Evolutionismus“ an das spanische Beispiel an. Tatsächlich hat der „runde Tisch“ in Polen 1989 schließlich zum Ende der realsozialistischen Herrschaft geführt, ohne daß die Verantwortlichen für Unterdrückung und Mißwirtschaft zur Rechenschaft gezogen worden wären. Unter den demokratischen Regierungen der Zeit nach 1989 wurde die Politik des „dicken Schlußstrichs“ praktiziert, nach der zwar der Geheimdienstapparat gesäubert und vereinzelt Strafprozesse wegen schwerer Verbrechen durchgeführt wurden, aber die Akten unter Verschluß und führende Sicherheitsleute im Amt blieben. Im Unterschied zu Spanien erregte dieser Umstand die Öffentlichkeit, besonders den konservativ-nationalistischen Teil des Ex-Solidarność-Lagers, das nach „Lustration“ (Durchleuchtung) und „Dekommunisierung“ rief. Die „Gauck-Behörde“ geriet ins innenpolitische Schußfeld Polens.

Wlodzimierz Borodziej von der Warschauer Universität verzichtete diplomatisch darauf, diese polnisch- deutschen Querverbindungen zu beleuchten. Aus seinem Vortrag wurde klar, daß das jetzt vom polnischen Sejm beschlossene Lustrationsgesetz den inneren Frieden keineswegs wiederherstellen wird. Denn das Überprüfungsverfahren, dem sich künftig Aspiranten für Staats- und politische Ämter unterziehen müssen, ist den Rechten bei weitem nicht scharf genug. Und Einsicht der Opfer in die (stark gereinigten bzw. geplünderten) Geheimdienstdossiers wird es nach wie vor nicht geben. Ebensowenig wie ungehinderte Akteneinsicht von Wissenschaftlern.

Ergebnis: Nach zwei Tagen informativen Trommelfeuers blieben die Teilnehmer, wenngleich mit geschärftem Bewußtsein, auf ihrer jeweiligen nationalen Problematik sitzen. Aber während sie nach Belem eilten, zur gegrillten Dorade und zum Stockfisch, begleitete sie Fernando Rosas Schlußresümee: „Es gibt keine Demokratie ohne Erinnerung und ohne Erinnerungspolitik.“