Darmkultur in der ersten Reihe

Boom im Becher: Probiotische Joguhrts haben ihren herkömmlichen Konkurrenten nach nur anderthalb Jahren auf dem deutschen Markt bereits zehn Prozent des Umsatzes abgerungen  ■ Von Helmut Dachale

Muß ein Joghurt unbedingt schmecken? Im Prinzip schon – doch wenn die Komsumenten glauben, er sei megagesund, rutscht er von allein durch den Schlund. So etwa könnte die Verkaufsstrategie für die probiotischen Milchprodukte aussehen, die mittlerweile im Kühlregal in der ersten Reihe stehen.

Auffällig neu an ihnen ist in der Tat die Vermarktung, meinen doch Bauer, Nestlé und Co. bei den Probiotischen völlig auf geschmackliche Anpreisungen verzichten zu können. Statt dessen kommen sie mit so geschmacklosen Dingen wie Bakterienkulturen und Darmflora.

Die Texte auf den Bechern lesen sich fast wie der Beipackzettel eines Arzneimittels, nirgendwo fehlen die nicht unbedingt appetitlich klingenden Namen der zumeist neugeschaffenen Bakterienstämme. Bei Nestlés LC1 ist's der Lactobacillus acidophilus1, und in der 65-Milliliter-Flasche Yakult tummeln sich angeblich 6,5 Milliarden Bakterien der Sorte Lactobacillus casei Shirota. Wobei dieser japanische Trinkjoghurt für Besserverdienende zur Zeit lediglich auf dem Testmarkt Nordrhein- Westfalen zu haben ist, Berlin darf ihn erst in Kürze genießen. Der Handel ist scharf auf ihn, verspricht er doch – wie die Fachzeitschrift Milch-Marketing schreibt – „hervorragende Spannen“.

Die etwas teureren, aber Fitness und Wellness verheißenden Joghurts kommen eben an bei den Verbrauchern: Erst seit anderthalb Jahren auf dem deutschen Markt, bringen sie bereits ein gutes Zehntel des gesamten Joghurt-Umsatzes.

Dabei haben sie eigentlich nichts anderes, was auch jeder herkömmliche Joghurt haben sollte: lebende Mikroorganismen. Genaugenommen macht erst die Zugabe wärmeliebender Milchsäurebakterien die Milch zum Joghurt. Die Einzeller leben in der halbflüssigen Pampe weiter und gelangen über Löffel, Mund und Magen in den Darm. Dort sind sie bei regelmäßiger Aufnahme – meinen die Mediziner – in der Lage, die Darmflora, also die Gesamtheit der im menschlichen Darm lebenden Bakterien, positiv zu beeinflussen. Und eine gesunde Flora sei die Basis der natürlichen Abwehrkräfte.

Doch viele Supermarkt-Joghurts sind einer Wärmebehandlung unterzogen worden, die den Mikroorganismen den Garaus gemacht hat. Verglichen mit diesen schlappen Erzeugnissen stehen die probiotischen Joghurts natürlich gut da. Aber auch alle anderen Joghurts, die lebende Kulturen enthalten. Ein weiteres Plus hätten die Neuen, wenn sie keine der üblichen Zutaten enthielten. 80 Prozent der im konventionellen Handel angebotenen Joghurts sind Fruchtjoghurts, das heißt, in dieser Mixtur ist womöglich keine Bakterie mehr aufzutreiben, dafür eine Spur von Frucht und vor allem Aromen, Farbstoffe, Zucker und Zuckerersatzstoffe. Ein Sammelsurium, das als weniger gesund einzuschätzen ist.

Dummerweise meinen die Dickmilch-Großproduzenten, so etwas dürfe auch in der probiotischen Ware nicht fehlen und reichern sie neuerdings mit „Bourbon-Vanille“ oder einer „Fruchtinsel“ an. Ein bißchen Geschmack kann wohl doch nicht schaden. Natürlich kommt dagegen der ABC- Joghurt der Molkerei Söbbeke auf den Tisch. Und das gleich in einem doppelten Sinne. Im umweltkorrekten Mehrwegglas tummeln sich ebenfalls aktive Bakterien – sogar gleich drei unterschiedliche Kulturen. Vor allem aber ist es gefüllt mit einem Joghurt, dessen Ausgangsstoff aus ökologischem Landbau stammt. Dazu gibt's noch etwas Ballaststoff, gewonnen aus der Zichorie, und sonst nichts. Verzichtet wird sogar auf das Modewort „probiotisch“. Zu haben ist Söbbekes „fermentiertes Milchprodukt“ vor allem in Bio- und Naturkostläden.

Bleibt noch die Behauptung von der außerordentlichen Effektivität der neuen Bakterienstämme. Derartiges habe der Joghurt noch nicht erlebt, erzählen die Branchenführer über ihre angeblichen Superkulturen. Nestlé zum Beispiel hat seine Bazille Acidophilus 1 selbst entwickelt und sie zum Patent angemeldet. Weil sie „ein besonders hohes Vermögen besitzt, sich an Darmzellen anzuheften“. Damit die Joghurtkulturen in der Blackbox des Darms, wo sich bis zu 500 verschiedene Bakterienstämme tummeln, aber überhaupt ihre segensreiche Verdauungs- und Abwehrtätigkeit aufnehmen können, müssen sie zuerst einmal den Magen passieren. Wie so alles, was sich der Mensch einverleibt. Kein Problem, sagt Nestlé, der patente Philus 1 überlebe „die Magenpassage in hohem Maße“. Doch ob er wirklich besser durch den Magen kommt als herkömmliche Bakterienkulturen, ist schwer zu überprüfen. Von durchschnittlichen Joghurtessern schon gar nicht. Aber viele glauben es halt – die steigenden Umsatzzahlen deuten daraufhin.

Wenigstens die Verbraucherzentralen bleiben skeptisch. In ihren telefonischen Einkaufstips zu den probiotischen Joghurts („Viel Lärm um wenig“) teilen sie mit: „Daß die neuen Kulturen gesünder sind als die althergebrachten, halten deshalb allein die Hersteller für bewiesen.“