Schönes neues Leben auf Borsigs Brache

■ Auf das Gelände der alten Lokomotivfabrik in Tegel ziehen High-Tech-Betriebe, Geschäfte für betuchte Leute, Büros und ein Hotel

Laut und dreckig war die Arbeit in den Fabrikhallen von Borsig am Tegeler See. Nicht wenige Proletarier holten sich während der zwölfstündigen Arbeitstage Krankheiten, die sie früh unter die Erde brachten. Doch die Ära des Lokomotivbaus ist lange vorbei, die riesigen Maschinen wurden verschrottet, und von den meisten Montagehallen stehen allenfalls noch die Backsteinfassaden. Jetzt soll das Leben auf der brachliegenden Industriefläche sauber, luxuriös und bequem werden. Ein Stadtteilzentrum entsteht mit Räumen für High- Tech-Betriebe, Einzelhandel, einem Kino mit bis zu 2.000 Plätzen und einem Hotel.

Die Produktion wird nur noch einen kleinen Teil der 15 Hektar großen Fläche einnehmen. Viele Betriebe im gerade eröffneten Gründerzentrum und im benachbarten Gewerbepark werden sich der Entwicklung von Produkten für die Telekommunikation widmen. Doch im Vordergrund steht die Dienstleistung. Hinter den Fabrikfassaden sollen wohlhabende KonsumentInnen ihr anderenorts verdientes Geld in Geschäften des gehobenen Bedarfs ausgeben. So wird wegen der hohen Mieten unter den Glasdächern, die sich der Form der alten Hallen anpassen, eine Änderungsschneiderei wohl eher kein Domizil finden. Die betuchte Kundschaft bekommt im Nordteil des Geländes auch eine neue Herberge: Zwei Drittel der 208 Wohnungen entstehen im freifinanzierten Wohnungsbau. Die Herlitz Falkenhöh AG, eine der vier Sparten des Papierkonzerns, kaufte das Borsig-Gelände 1992 und eröffnete damit im Nordwesten der Stadt den Berlin-brandenburgischen Kampf um Markanteile im Dienstleistungssektor. Man will verhindern, daß im Umland weitere Großmärkte sprießen, die den Konsum nach außen ziehen. „Der Klotz von Einkaufszentrum“ (Bündnisgrüne) mit seinen 22.000 Quadratmetern Geschäftsfläche jagt jedoch auch der Firma Otremba, Betreiberin des nahe gelegenen Tegelcenters, Angst ein. Der Komplettumbau steht an, um nicht in der Konkurrenz unterzugehen. Über die Investition und Jobs hocherfreut, fraß Reinickendorfs CDU-Bürgermeisterin Marlies Wanjura dem Investor aus der Hand. Räume für ein Jugendzentrum gibt es deshalb in der Einkaufslandschaft nicht. Die Bündnisgrünen merken an, daß das Zentrum den Autoverkehr wie ein Staubsauger nach Tegel hineinziehe. Über den Stand der Vermietung der Geschäfts- und Büroflächen hüllt sich Herlitz in Schweigen. Bereits einmal hat der Konzern mit seinem Projekt Verlust eingefahren: In der Nachwendeeuphorie bezahlte man für Borsigs Brache 75 Millionen Mark mehr, als man nach dem Sturz der Immobilienpreise wieder herausholen kann. Hannes Koch