"Er war eine Offenbarung"

■ Am 22. Juni wäre Norbert Elias 100 Jahre alt geworden. Ein Gespräch mit Michael Schröter, dem langjährigen Assistenten Elias' und Herausgeber seines Spätwerks

taz: Das Hauptwerk von Norbert Elias, „Über den Prozeß der Zivilisation“, ist bereits 1939 erschienen. Eine zeitnahe Rezeption war durch die Nazidiktatur und den daraus folgenden Krieg aber beinahe unmöglich. Ab Mitte der siebziger Jahre kommt Elias dann plötzlich in Mode. Wie ist das zu erklären?

Michael Schröter: Zunächst einmal muß man sagen, daß es schon in den sechziger Jahren ein paar Leute gab, die das Buch gelesen hatten, und die es sehr schätzten. Einer davon war der Soziologe Dieter Claessens, der zuerst in Münster einen Lehrstuhl hatte und dann in Berlin. Er empfahl das Buch regelmäßig in seinen Seminaren und holte Elias auch zu einer Gastprofessur nach Münster. Damals entwickelte sich also eine erste esoterische Rezeption, vor allem im Umkreis von Claessens, zu dem auch Wolf Lepenies und Hermann Korte gehörten. Wie es dann kam, daß das Buch 1969 als Raubdruck vor der Uni-Mensa angeboten wurde, ist mir nicht ganz klar.

Spielte die Elias-Lektüre eine hervorgehobene Rolle für die Studentenbewegung?

In theoretischer Hinsicht, würde ich sagen, ja, zumindest was Berlin betrifft. Für mich ist es eine beherrschende Erinnerung, wie man Ende der sechziger Jahre eine Zeitlang Freud las, und dann wechselten diejenigen, die den Finger am Puls der Zeit hatten, zu Marx über. Aber auch für die übriggebliebene Freud-Fraktion war ein Brückenschlag zur Soziologie das Programm. Dafür hatten wir keine überzeugenden Vordenker. Elias sprang in diese Lücke ein. In seinem Prozeß-Buch weist er nach, daß die Persönlichkeitsstruktur, wie Freud sie beschrieben hat, gesellschaftlich bedingt und historisch geworden ist. Das war eine große Offenbarung. Insoweit halte ich Elias für einen Autor der 68er Generation. Sein breiter Erfolg in Deutschland setzte allerdings erst 1976 mit der Taschenbuchausgabe von „Über den Prozeß“ ein, als die Leute älter geworden waren und nach den großen Slogans etwas solidere gedankliche Substanz suchten. Die aufkommende Tendenz zur Selbsterfahrung mag auch dazu beigetragen haben.

Was an Elias' Arbeiten vor allem fasziniert, ist seine enorme Fähigkeit zur Assoziation, die mitunter den Eindruck erweckt, als entspränge sie einer dichterischen Einbildungskraft.

Elias hatte zum poetischen Umgang mit Sprache ein genuines Verhältnis, und es gibt ja auch einen Band mit Gedichten von ihm. Für seine Arbeit aber hat er stark getrennt zwischen der Dichtung, wo die Phantasie freien Lauf hat, und der Wissenschaft, wo das Wunschdenken und die Phantasie gezügelt werden müssen. Trotzdem ist es richtig, daß er sehr assoziativ schrieb. Ich konnte ihn öfters dabei beobachten und habe gemerkt, wie er diesen Stil geradezu pflegte und sich dadurch den Zugang zu einer kreativen Schicht des Denkens offenhielt. Das hat den Nachteil, daß seine Texte manchmal nicht gut konstruiert sind. Sie haben etwas Fließendes, Mäanderndes, so daß man nie ganz sicher sein kann, wo sie auf der nächsten Seite landen. Aber der große Vorteil ist, daß sie immer aus dem Prozeß des lebendigen Denkens erwachsen.

Wäre dieser Stil, wenn Elias ein etablierter Professor geworden wäre, verlorengegangen?

Elias war im Frühjahr 1933, als er aus Deutschland fliehen mußte, so gut wie habilitiert. Es ist nicht unrealistisch anzunehmen, daß er ohne die Nazis eine Professur für Soziologie bekommem hätte. Was dann geworden wäre, kann natürlich niemand wissen. Aber seine frühen Arbeiten wie etwa die „Höfische Gesellschaft“, die auf die Habilitationsschrift zurückgeht, sind jedenfalls viel enger in den wissenschaftlichen Diskurs der Zeit eingewoben als die späteren. Er hat auch da eine eigenwillige Position, aber er „gehört dazu“. Nach 1939 gibt es Versuche, in dieser Weise weiterzumachen, aber der Hauptstrang des Eliasschen Arbeitens zieht sich in sich selbst zurück. Ich sehe darin eine Reaktion auf die Resonanzlosigkeit und Vereinsamung. Auf privater Ebene ist Elias immer mit anderen im Gespräch geblieben, aber das war nicht stark genug, um ihn im Kontext der akademischen Diskussion zu halten. Diese Entwicklung wäre vielleicht normaler verlaufen, wenn er einen ordentlichen Platz im Betrieb gefunden hätte.

Ist die Kraft, die vom Eliasschen Werk ausgeht, bereits voll entfaltet, oder gibt es da noch etwas zu entdecken?

Das Eliassche Werk ist eine Fundgrube von Anregungen für weitere Forschungen. Vor allem in seinen späteren Arbeiten entwirft Elias immer wieder große Zusammenhangshypothesen, die er aber nur durch Einzelbeispiele belegt. Den Anspruch, ein umfängliches empirisches Material mit einer weitgespannten Theorie zu verbinden, hat er nach dem Prozeß-Buch trotz mehrerer Anläufe nicht mehr einlösen können – mit der einen Ausnahme von „Etablierte und Außenseiter“, wo ihm ein junger Co-Autor half. Durch das Fallenlassen dieses Anspruchs hat er sich ab etwa 1970 zum Schreiben befreit. Aber eine Folge ist, daß die Spezialisten seine Werke nicht recht ernstnehmen. Die Mozart- Kenner rümpfen die Nase über das Mozart-Buch; wer sich in der Geschichte des Duells auskennt, findet die betreffenden Passagen in den „Studien über die Deutschen“ dilettantisch.

Wird das empirische Material angezweifelt?

Die Kritik, die ich im Auge habe, ist vor allem eine von Historikern, denen es ja nicht in erster Linie um Theorie geht, sondern um die Erschließung und Darbietung von Quellen. Ich habe mir immer gedacht, man müßte es umgekehrt machen. Man müßte Elias einen Kredit geben und sagen: Diese These ist interessant und weitreichend, was kommt heraus, wenn wir sie mit einem breiteren Material konfrontieren? Um ein Beispiel zu nennen: In den „Studien über die Deutschen“ gibt es eine einprägsame Beobachtung über deutsche Soldatenlieder. Es sind typischerweise traurige Lieder, die nicht etwa den Kampfeswillen und die Siegeszuversicht anstacheln, sondern den nahen Tod vorwegnehmen. So hat sie der junge Elias 1916 bei der Fahrt zur Front im Ersten Weltkrieg gehört. Woher kommt diese Ausrichtung, die doch ganz dysfunktional erscheint? Elias erklärt sie aus einer großen Theorie des deutschen Nationalcharakters. Man könnte seine Aussage als wissenschaftliche Hypothese nehmen und die Soldatenlieder daraufhin gründlicher untersuchen. Ist seine Beobachtung wirklich typisch? Hat man 1916 andere Lieder gesungen als 1871 oder 1812? Wie sehen im Vergleich dazu die Lieder anderer Länder aus? Was ergibt sich daraus für den jeweiligen nationalen Habitus? Das wäre eine Dissertation, die ich gern lesen würde, und sie wäre machbar. In ähnlicher Weise könnte man aus dem Eliasschen Werk eine Fülle von Leithypothesen für vielversprechende Forschungsarbeiten destillieren. Meines Wissens ist in dieser Richtung bisher erschreckend wenig geschehen.

Warum ist von Elias keine große Forschungsbewegung ausgegangen? War er vielleicht doch nur der Autor einer Generation?

Diese Frage entscheidet sich letztlich nicht an seinem Werk, sondern daran, wie die Leute, die ihn kannten oder die sonst von ihm gelernt haben, sein Werk weitertragen. Und hier macht sich sein Außenseitertum bitter bemerkbar. Denn Elias hat, weil er selbst nie eine starke akademische Position erlangt hatte, auch keine Schule gebildet. Zur Schulbildung gehört nun einmal, daß man für seine Schüler Karrieren eröffnet, und das konnte er nicht. Er hat sich dafür übrigens auch nicht wirklich interessiert, nicht einmal in bezug auf sich selbst. So zog er oft Leute an, für die dieser Aspekt ebenfalls sekundär war, und brachte seine Arbeitstradition ein bißchen in eine Sackgasse.

Nach „Etablierte und Außenseiter“ (1990) und dem Mozart- Buch (1991) ist in Deutschland nichts mehr von Elias erschienen. Gäbe es da editorisch nicht noch einiges zu tun?

Nun, für diesen Sommer ist eine Neuausgabe des Prozeß-Buchs mit Register und Übersetzung der fremdsprachigen Zitate angekündigt. Das ist eine verdienstliche Arbeit, obwohl eher technischer Natur. Nicht auf deutsch erschienen ist bisher das letzte Buch von Elias, die „Symboltheorie“, die seit 1991 auf englisch vorliegt. Außerdem fehlen der sportsoziologische Band sowie eine Aufsatzsammlung. Das sind die einfachen Dinge, die man nur übersetzen bzw. zusammenstellen müßte. Diese Bücher, die bisher auf sich haben warten lassen, werden wohl früher oder später herauskommen. Was ich gar nicht sehe, ist, daß jemand die Fülle des unveröffentlichten Materials durchsieht und prüft, was davon noch veröffentlichtswert ist. Das war ja meine wichtigste Aufgabe in den achtziger Jahren. Ich selber habe nach dem Tod von Elias mein editorisches Engagement für sein Werk beendet, weil ich mich mit seinen Erben nicht auf einen Modus der Zusammenarbeit einigen konnte. Der interessierten Öffentlichkeit kann es gleichgültig sein, wer die Arbeit macht. Aufpassen aber sollte sie, wenn die Gefahr besteht, daß die Arbeit überhaupt nicht gemacht wird oder mit Verzögerungen, die dem Autor Norbert Elias noch postum schaden. Interview: Harry Nutt