In Kassel startet heute die weltweit bedeutendste Schau zeitgenössischer Kunst: Die documenta X. Die Ausstellung erschöpft sich in Konzepten und Strategien, in einem Insistieren auf künstlerischer Praxis und politischen Querverbindungen, während die physische Präsenz der Arbeiten nahezu verschwindet Aus Kassel Harald Fricke

Grau in Grau der Grübelei

Man muß sich Kassel als eine glückliche Stadt vorstellen. Es gibt einen ICE-Bahnhof, auf dem die documenta- Besucher aus Paris, Köln, Berlin oder Amsterdam ankommen. Und es gibt einen Kulturbahnhof, auf dem die weltweit größte Ausstellung zeitgenössischer Kunst mit allerhand Konzerten und täglichem Filmprogramm begleitet wird. Es gibt Diskussionsrunden mit Künstlern und Kritikern, die der Hessische Rundfunk live überträgt. Und es gibt das Kulturfernsehen arte, das täglich ein paar Minuten aus Kassel Metropolenstimmung senden wird. Rund um den Friedrichsplatz haben lauter Straßencafes geöffnet. Und heute, am Tag der Eröffnung, kommt sogar der Bundespräsident. So ist das alle fünf Jahre während der 100 Tage der documenta.

In diesem Jahr gab es Streit. Denn Catherine David, die Chefin der documenta X, gilt als schwierig im Vergleich zu ihrem Vorgänger Jan Hoet, der wie ein Box-Promoter auftrat und Menschen für documenta-Uhren, -Hemden und -Krawattennadeln begeisterte. David dagegen kommt von der Theorie und kann mit simplen Dingen wie Fremdenverkehr und Stadtmarketing nichts anfangen. Statt dessen hatte sich die 43jährige Kuratorin des Pariser Jeu de Paume über die vielen Sockenläden mokiert, die man nur in der Provinz finden könne.

Die Kasseler haben Frau David zurückgeärgert und eine Sockumenta ausgerufen. Der Museumspädagogische Dienst ließ Kinder ihre Visionen moderner Kunst malen, und es kamen lauter bunte Strümpfe heraus. Ansonsten wurde nicht viel kommuniziert miteinander.

Das Schweigen hat sich trotzdem gelohnt. 2.500 akkreditierte Journalisten, ein Budget von 20 Millionen Mark – mit ihrer stillen Art hat David sogar den Kunstpopulisten Hoet an Aufmerksamkeit übertrumpft. Doch der Erfolg machte sie auch nicht mitteilsamer: Zur Pressekonferenz las David einen Text vor, der von Kulturtourismus und Globalisierung zum Nationalsozialismus wanderte, bei „postarchaischen, posttraditionellen und postnationalen“ Gesellschaften kurz Pause einlegte und schließlich die Vielfalt künstlerischer Praktiken bis hin zum Internet lobte.

Als jemand nach der Künstlerauswahl fragte, war das Gespräch für die erboste David beendet: „Ich glaube, wir verschwenden hier nur Ihre und meine Zeit.“ Alles, was sie zu sagen hätte, stünde ohnehin im Katalog, dessen Einband entsprechend diffus mit Schlagwörtern übersät ist, fünf Kilo wiegt und 830 Seiten zählt.

Offenbar hat David den Part der Ausstellung zur documenta als notwendiges Übel hingenommen, während sie in ihrem Buch lieber europäische Kulturgeschichte seit 1945 nacherzählen wollte. Doch auf dem Parcours durch die Stadt fällt all das Zusammengedachte in der präsentierten Kunst auseinander: Wo vorher von Weltkapital und Migration die Rede war, sieht man nun Plakate mit Hochhäusern und der roten Aufschrift Frankfurt/Belgrad/Istanbul. Oder man kann in Christine Hills „Volksboutique“ Kleider mit der Berliner Künstlerin tauschen und auch warme Worte.

Davids documenta ist halbherzig im Umgang mit aktueller Kunst, die mehr wie ein Beleg multikultureller Netze plaziert wurde. Hier ein verschmitzt arrangiertes Readymade aus Computer und China-Imbiß von Matthew Ngui aus Singapur, dort die edel ausgestatteten Miniatur-Camper von Andrea Zittel und in den Auen frisch geworfene Ferkel von Carsten Höller und Rosemarie Trockel, in denen sich der Mensch, das tumbe Tier, wiedererkennen soll und es auch gerne tut. Zugleich ist die documenta als „Blick zurück nach vorn“ (David) pedantisch um Geschichte bemüht. Die Haupträume im Fredericianum sind monografisch Gerhard Richters 633teiligem „Atlas“-Zyklus oder Hans-Jürgen Syberbergs Klassikerinterpretationen gewidmet, während sich im ersten Stock bis zu acht KünstlerInnen den gleichen Platz teilen müssen. Dort ist die Übermacht der Fotografie auffällig, aber nicht zwingend inszeniert. Immerhin hat Jeff Wall ein eigenes Kabinett, aber auch die neuen Schwarzweiß-Prints von Nebensächlichkeiten in Hotelzimmern oder Grünanlagen wirken leblos. Die perfekte Konstruktion macht müde, so wie sich Walls „Citizen“ die Brille abgenommen und zum Schlafen auf eine Wiese gelegt hat.

Im schlappen Bürger spiegelt sich viel vom allgemeinen Mißmut wider: Es ist das Grau in Grau unentwegter Grübelei, die mit der Darstellung hadert, aber auch im Denken nicht vorankommt. Auch das ist ein postmodernes Dilemma: Die documenta erschöpft sich in Konzepten und Strategien, in einem permanenten Insistieren auf künstlerischer Praxis und politischen Querverbindungen, während die physische Präsenz der Arbeiten nahezu verschwindet. Halle für Halle, Raum für Raum wird man mit Entwürfen konfrontiert, deren Prozeßhaftigkeit schön anzusehen ist, vor allem aber unverbindlich bleibt.

Bei Catherine David dient Kunst bloß als Ornament, in jeder Skizze wird mit dem Pathos der Bescheidenheit auf die großen Weltzusammenhänge hingewiesen, die hier sämtliche Exponate, vom karogemusterten Totenschädel unter Glas bei Gabriel Oroszco bis zu Christine & Irene Hohenbüchlers Erzeugnissen aus der Psychiatrie, im Alleingang einzulösen meinen. Rem Koolhaas' Bildessay „New Urbanism: Pearl River Delta“ darf als hochkopierter Text an zwei Orten über die Wände wuchern, ohne daß er mit seinen Layout-Brüchen und Schrifttypen überhaupt lesbar wäre.

Sieht so Catherine Davids Widerstand gegen den „Kunstkonsum“ aus? Oder richtet sich die Verweigerung nur gegen das Publikum, während man sich betriebsintern darüber köstlich amüsiert? Immerhin hat Marie Puck, die Tochter von Marcel Broodthaers, die Arbeiten ihres Vaters am Eröffnungstag entfernen lassen, weil sie mit der Hängung nicht einverstanden war. Das ironische Museumsschild des 1976 gestorbenen Belgiers hatte die „section publicité“ zum Thema. Jetzt hat sich der Witz über die Werbung selbst aufgehoben.

Die documenta X geht bis zum 28. September (Katalog: Cantz Verlag, 830 Seiten, 90 Mark)