Aus dem Alltag der Pflege

■ Die 87jährige Frau ist schwerstpflegebedürftig. Der Betreuer entscheidet nach dem Gesetz über ihr Vermögen und darüber, ob sie Besuch von ihrer Tochter bekommen darf

Der Besuch bei ihrer Mutter und Großmutter erinnert Renate Jochens und ihre Tochter Anne an die Romane von Franz Kafka. Den Mann, der ihnen die Tür öffnet, kennen sie nicht. Artig stellt er sich als „Herr L.“vor. „Wir haben doch mal miteinander telefoniert“, fügt er hinzu und lächelt gequält. „Aha“, entgegnet Renate Jochens und zuckt mit den Achseln. Sämtliche Zimmertüren im Haus ihrer Mutter sind verschlossen. Renate Jochens darf in ihrem Elternhaus weder auf die Toilette noch in die Küche, um sich ein Glas Wasser zu holen. „Tut mir leid“, sagt Herr L. „Anweisung von Dr. Bulling.“

Dr. Bulling ist der amtlich bestellte Betreuer der Mutter von Renate Jochens. Die 87jährige ist aufgrund einer Durchblutungsstörung des Gehirn schwerstpflegebedürftig. Der Betreuer entscheidet deshalb über das Vermögen der Frau, über ihren Aufenthaltsort und auch darüber, wer sie wann sehen darf und wie lange. Alle zwei Wochen, freitags ab 18 Uhr dürfen ihre Tochter und Enkelin die alte Frau besuchen. „Ich hätte nie geglaubt, daß ein Betreuer eine Familie spalten kann“, schimpft Renate Jochens.

„Natürlich sollte eine Tochter ihre Mutter sehen können, wann immer sie will“, sieht auch Dr. Bulling ein. „Aber Frau Jochens versteht sich nicht mit der Pflegerin. Es ging nicht anders“, sagt er und wird lauter: „Es geht Sie gar nichts an, was ich als Betreuer mache. Ich lasse mir von Ihnen meinen hervorragenden Ruf nicht ruinieren. Wenn Sie etwas in die Zeitung schreiben, werde ich mich dagegen wehren. Darauf können Sie sich verlassen.“Als die Drohung nichts fruchtet, schlägt der Jurist sanftere Töne an: „Ich bin doch auch in der Bosnien-Hilfe. Die taz hat neulich ganz nett über mich geschrieben.“Außerdem sei Renate Jochens ohnehin nur „eine Adoptivtochter, die ein sehr schwieriges Verhältnis zu ihrer Mutter hatte“.

„Herze, Herze“, sagt die Mutter von Renate Jochens, als sich ihre Tochter und Enkelin zu ihr in den Wintergarten setzen. Die alte Frau strahlt und streichelt die Hände ihrer Tochter. Nach Einschätzung von Dr. Bulling „kriegt sie nichts mehr mit“. Sie ahnt vermutlich nicht, daß der Streit zwischen ihrer Tochter und dem Betreuer mittlerweile einen dicken Aktenordner füllt. Auch Renate Jochens hätte sich 1994, als Dr. Bulling vom Amtsgericht Bremen zum Betreuer bestellt wurde, „nicht träumen lassen, daß es mal soweit kommen würde“. „Ich lag monatelang im Krankenhaus, mein Bein mußte amputiert werden. Ich wußte damals nicht, ob ich nicht den Rest meines Lebens im Rollstuhl verbringen würde. Mir war klar, daß ich die Betreuung nicht übernehmen konnte. Außerdem habe ich mich damals mit meinem Bruder gestritten. Er hat mir unterstellt, ich wolle nur in das Haus meiner Mutter einziehen. Unter diesen Voraussetzungen war es besser, einen Dritten zum Betreuer zu bestellen.“

Obwohl Dr. Bulling nach Einschätzung von Renate Jochens nicht, wie er sagt, „ein Freund der Familie“, sondern „nur der Finanzberater meiner Mutter“war, hatte sie gegen ihn als Betreuer deshalb zunächst nichts einzuwenden. Dr. Bulling beauftragte eine freiberufliche Pflegerin, ihre Mutter fortan rund um die Uhr zu betreuen. „Ich war auch mit der Pflege zufrieden. Schwierig wurde es erst, als ich anfing, Fragen zu stellen.“

Mit etwa 20.000 Mark schlagen Pflege und die laufenden Kosten monatlich zu Buche. Das ist bei einer Betreuung rund um die Uhr ein durchaus üblicher Satz, bestätigt das Sozialamt. Die Pflegerin zieht mit ihrer Tochter und ihrem Mann in das Haus. „Dr. Bulling hat mir damals gesagt: ,Freuen Sie sich doch, daß ihre Mutter jetzt eine Ersatzfamilie hat.' Das hat mir richtig weh getan.“Kurz darauf registriert Renate Jochens, daß die Telefonrechnungen, die ihre Mutter bezahlt, plötzlich zwischen 300 und 500 Mark betragen. „Dabei kann meine Mutter gar nicht mehr telefonieren.“Außerdem will sie von dem Betreuer wissen, wer die Sozialabgaben für die Pflegerin zahlt.

Die Pflegerin habe ihre Bezüge tatsächlich bislang nicht versteuert, räumt Dr. Bulling ein. Das Finanzamt sei zwischenzeitlich dahinter gekommen und fordere nun die Nachversteuerung. Telefonkosten über 50 Mark zahle die Pflegerin künfigt selbst, versichert er außerdem. Doch im Laufe der Zeit wird Renate Jochens immer stutziger: Dr. Bulling läßt beispielsweise das Inventar ihrer Mutter auflisten und schätzen. Den Wert eines Gemäldes von Wilhelm Trübner (1851 - 1917) gibt der Obergerichtsvollzieher, Versteigerer und Schätzer mit 10.000 Mark statt mit 30.000 Mark an. Eine französische Tischuhr, die laut Zertifikat 23.000 Mark gekostet hat, ist bei ihm nur 400 Mark wert. Rund 42.000 Mark sei der Hausstand der Mutter insgesamt wert, so der Gerichtsvollzieher. Die Gutachter, die 1981 nur die Kunstwerke im Hause der Mutter geschätzt haben, sind empört. Die Schätzung sei „skandalös“. „Man sollte solchen Gaunern das Handwerk legen“, schreibt der Sachverständige an Renate Jochens.

In dem Verzeichnis ginge es nicht um den Wert der Kunstgegenstände, winkt Dr. Bulling ab. „Ich habe das Verzeichnis nur erstellen lassen, um festzuhalten, was sich genau in dem Haus befindet. Der Wert ist in diesem Zusammenhang nicht von Bedeutung.“

„Danach war es aus“, erinnert sich Renate Jochens. „Die Pflegerin, mit der ich mich ja am Anfang gut verstanden habe, hat mich nur noch schikaniert und mir das Leben schwer gemacht.“Inzwischen verläßt die Pflegerin das Haus, wenn Renate Jochens zu Besuch kommt. Solange paßt dann Herr L. oder eine andere Vertretung auf die Mutter auf. „Mitunter kenne ich die Leute überhaupt nicht. Dr. Bulling übergeht mich bei allen Entscheidungen“, seufzt Renate Jochens. „Stimmt nicht“, sagt hingegen Dr. Bulling. Renate Jochens hätte die Pflegerin schikaniert und alle Räume durchsucht – auch die in der die Pflegerin ihre Privatsachen aufbewahre. Von Anfang an hätte sie nichts unversucht gelassen, um die Pflegerin, „die sich Tag und Nacht rührend um die Frau kümmert“, aus dem Haus zu treiben. Die Pflegerin will sich nicht äußern. „Wenn ich eine bessere Pflegerin finden würde, würde ich sie nehmen, aber ich finde keine“, sagt Bulling. Ohne die Pflegerin müsse die alte Frau ins Heim und würde binnen kürzester Zeit „eingehen wie eine Primel“. Durch die hohen Pflegekosten für die Mutter würde das Erbe langsam aber sicher aufgezehrt. Deshalb versuche die Tocher so schnell wie möglich an das Erbe zu kommen. „Eine böse Verleumdung. Alles, was ich will, ist, daß ich meine Mutter sehen kann“, sagt Renate Jochens. Bei Gericht hatte sie mit ihren Beschwerden bislang keinen Erfolg. Die Pflegekosten seien durch den Betreuer tatsächlich deutlich reduziert worden. „Der Betreuer hat die Angelegenheiten des Betreuten so zu besorgen, wie es dessen Wohl entspricht“, entschied das Amtsgericht. Die Mutter hätte früher den Wunsch geäußert, „zu Hause zu verbleiben und dort gepflegt zu werden. Diese von der Betroffenen gewünschte Pflege in ihrem Haus ist zur Zeit gewährleistet, da sie von der Pflegerin rund um die Uhr betreut wird. Der Betreuer hat ausgeführt, daß die Pflegerin die Pflege sofort aufgeben würde, wenn die Tochter der Betroffenen in der Lage wäre, jederzeit ohne Anmeldung in die Wohnung zu gelangen.“Der Wunsch der Pflegerin beruhe nicht auf „Willkür“, sondern auf „Sacherwägungen“. Durch die Krankheit sei der normale Tag- und Nachtrhythmus der Patientin aufgehoben. Die Pflegerin müßte sich diesem nicht vorhersehbaren Rhythmus anpassen. Sie könne deshalb verlangen, daß sich der Besuch vorher telefonisch anmeldet. Auch das Bundesverfassungsgericht räumt nahen Angehörigen wenig Chancen ein, Einfluß auf die Wahl des Betreuers zu nehmen. Zwar hätten sie einen gewissen Vorrang gegenüber Dritten, entschied der BGH im Oktober 1996 (BGH X II ZB 7/96). Wenn die Angehörigen allerdings zunächst darauf verzichtet hätten, die Betreuungsaufgaben zu übernehmen, könnten sie später nicht die Entlassung des eingesetzten Betreuers fordern, um die Pflegschaft selbst zu übernehmen. Das ist laut BGH-Urteil erst möglich, wenn der Betreuer aus wichtigem Grund entlassen wird.

Renate Jochens und ihre Tochter wollen gehen. „Nein, nein, nein“, sagt die Mutter und fuchtelt wild mit den Armen. Das Sprechen fällt ihr offensichtlich schwer. Sie öffnet den Mund, ihr Gesichtsausdruck wirkt hochkonzentriert.„Diese Frau“, nimmt die Mutter einen erneuten Anlauf. „Gib es ihr“, sagt sie schließlich deutlich hörbar. „Familie, Familie“, stammelt sie. Ihre Stirn glänzt. „Weggenommen“, preßt sie schließlich hervor. kes