■ Normalzeit
: Das Wehrheits-Malrecht

galt vor allem in Westberlin, das ansonsten von der Wehr- Pflicht befreit war. Seit der W-Vereinigung ist es damit vorbei, dennoch hält sich das „Malrecht“ nach wie vor hartnäckig in der Stadt. Die in Neukölln lebende süddeutsche FU-Romanistikstudentin Katharina Kairophob fühlte sich dennoch schon 1992 zum Künstlersein „zu wenig berufen“ und spielte deswegen auf dem Weg zum Hermannplatz mehrere alternative Berufsmöglichkeiten durch: „Wenn sie die Häuser in der Warthestraße so anschaut, findet sie Architektin mit dem Schwerpunkt Stadterneuerung einen guten Beruf. Sie würde richtungsweisende Konzepte vorlegen, mit denen ganze Altbauquartiere mit geringem Kostenaufwand, und doch nicht billig, mit einfachsten Mitteln, und doch nicht simpel, in einem Zug rundum restauriert werden könnten. Als Architektin könnte sie auch viel direkter wirken als mit Zeichnungen.

Diese Aussicht erfreut sie drei Häuser weit. Aus dem vierten Haus kommt ein proletarisches Ehepaar im Sonntagsstaat, das auf einen amerikanischen Straßenkreuzer zusteuert und vor lauter Goldkettchen leise klingelt. Sofort fällt Katharina Diane Arbus ein, und sie erwägt einen Moment eine Laufbahn als Fotografin, verwirft diesen Gedanken aber gleich wieder, weil sie bislang noch nicht einmal selbst Filme entwickeln kann.

Im nächsten Haus befindet sich das Warthestübchen. Der Ausblick eines zu den Klängen der Musikbox auf der Stelle tretenden Paares, das gleich umfiele, wäre der Mann nicht an den Tresen gelehnt, auf dem sich auch der Aschenbecher befindet, über den er seine Zigarette hält. Das überzeugt Katharina davon, daß hier mehr noch ganz einfache Sozialarbeiter gefragt sind. Sie könnte z.B. ein Alkoholikerprojekt im Stile der Drogenentzugsprojekte aufbauen, wo die trockenen Alkoholiker zusammenlebten und gemeinsam arbeiteten und das sich vom Verkaufserlös der Keramikvasen nach kurzer Zeit selbst trüge.“

So sinniert die Protagonistin in dem Roman „Katharina oder die Existenzverpflichtung“ (Verlag Fannei & Walz) vor sich hin. Später fällt ihr ein, daß sie noch immer nicht den Baudelaire-Aufsatz für das Flaubert-Seminar gelesen, „ja noch nicht einmal kopiert hat. Das rückt die Aussicht, eine internationale Kapazität zu werden, in unerreichbare Ferne. Dabei ist sie selber schuld daran! Das junge Phänomen schämt sich.“ Später sagt sie sich jedoch: „Die sind doch bescheuert, die Romanistikstudentinnen. Was mach' ich denn jetzt.“

In Wirklichkeit machte die in Bad Königshofen aufgewachsene Autorin, Iris Hanicka, doch erst einmal ihr Examen, veröffentlichte dann Essays u.a. übers „Sammeln“ und über das „Grübeln“ und fand eine Anstellung in der Redaktion der Ostberliner Zeitschrift Neue Bildende Kunst. Gelegentlich taucht sie unvermutet auf Kulturveranstaltungen und -partys auf. Gerne sitzt sie aber auch allein am Tresen ihrer Stammkneipe „Engelbecken“ oder besucht das Prinzenbad. Im großen ganzen macht sie einen gelassenen Eindruck (wie man ihn bei einer Tochter aus wohlhabendem Hause wohl erwarten darf, was aber mit einer gewissen Ehrgeizlosigkeit einhergeht). Aus einem Briefwechsel zwischen der Autorin und dem Wehrmachts-Forscher H.D. Heilmann weiß ich jedoch, daß ihre Großmutter nach Lektüre des Buches meinte: „Was mußt du gelitten haben!“ – und das obwohl erstens die Protagonistin Katharina sich wiederholt sehr freundlich über ihre Familie äußerte und zweitens das Ganze sowieso kein autobiographischer Roman ist, „nur die ersten zwei Seiten“. Helmut Höge

wird fortgesetzt