Menschen im Zwielicht

Den Ausnahmezustand aushalten, Verschüttetes ausgraben: Als wäre es eine Modellinszenierung zu seiner soeben erschienen Dramaturgie „Droge Faust Parsifal“, inszenierte Einar Schleef in Düsseldorf „Salome“ nach Oscar Wilde  ■ Von Petra Kohse

Theater, das dich ansieht: Der Eiserne Vorhang hebt sich und gibt eine rätselhafte Figurengruppe frei. Männer in schulterfreien schwarzen Damenroben stehen links und rechts eines blitzenden Steges, der die Bühne teilt und sich im Zuschauerraum als lange Treppe nach oben fortsetzt. Auch die Rampe ist metallisch verkleidet und durchschneidet den Steg orthogonal zu einem Kreuz. Am Schnittpunkt sitzt eine Dame in rotgoldenem Tuch, weiter hinten auf dem Steg steht ein Jüngling – mit verkrümmt erhobenen Armen? Menschen im Zwielicht, Details verschwimmen vor den Augen. Die Sitzende blickt als einzige in die Bühne hinein, die anderen Schauspieler schauen direkt ins Publikum. Kein Wort, keine Bewegung, bis sich eine Viertelstunde später der Eiserne Vorhang wieder senkt.

Das Publikum im Düsseldorfer Schauspielhaus ist natürlich unruhig geworden, hat sich mit Zwischenrufen mehrfach seiner Anwesenheit versichert und applaudiert jetzt fast höhnisch. Dann aber gehen alle fröhlich in die Pause, stellen sich beim Kartoffelsalat an – und waren doch Zeugen der Geburt einer Schauspielouvertüre aus dem Geiste der Malerei. Wobei der Regisseur Einar Schleef wahrscheinlich nur „Wiedergeburt“ gelten lassen würde, beschreibt er seine originär strukturierte und rhythmisierte Arbeit doch gern nur als Neuentdeckung von Verschüttetem.

Schleef, nicht der Bühnenberserker, sondern der Bewahrer des antiken und klassischen Erbes. Auch als Legitimationsstrecke läßt sich sein überwältigendes, soeben bei Suhrkamp erschienenes Buch „Droge Faust Parsifal“ lesen, als Versuch, die eigenen Arbeit durch Traditionalisierung aus der Schußlinie zu holen. Erkenne dich selbst, wenn es kein anderer tut! Tatsächlich ist der 53jährige Maler, Bühnenbildner, Autor und Regisseur heftig umstritten, und im Vorwort seines Buches schreibt er: „Mein Ansatz, den Chor, die Gemeinschaft der miteinander Arbeitenden, die Gemeinschaft der Figuren, die eine Sprache sprechen, die des Autors, wieder auf der Bühne zu beheimaten, stößt auf heftigste Reaktion und Ablehnung. Von Beginn meiner Tätigkeit als Regisseur in der BRD werde ich mit einem faschistischen Etikett versehen. Diese Einschätzung führt zur Ächtung, zur jahrzehntelangen Nichtbeschäftigung im Theatertrott.“

Natürlich trägt auch seine legendär egomanische Arbeitsweise dazu bei. Wer Einar Schleef bei sich inszenieren läßt, muß bereit sein, den Ausnahmezustand auszurufen. Was sich lohnt: Die Düsseldorfer Intendantin Anna Badora hat es gewagt, und was dort unter dem Titel „Salome“ am Samstag abend uraufgeführt wurde, ist ein grandioser Entwurf des Archetypischen von Einar Schleef und seiner Mitarbeiterin Susan Todd.

„Salome“ also, 1893 veröffentlicht von Oscar Wilde, 1997 bearbeitet und ergänzt von Einar Schleef. Er habe zum Thema selbst etwas „getippt“, vertraute Schleef Andres Müry im Berliner Tagesspiegel vorab an. Getippt! Das Stück, das in schwüler Fasziniertheit vom Dämon Weib erzählt, ist ganz neu kenntlich geworden als Geschichte einer Emanzipation und Individuation. Nicht mehr Salome, die Johannes dem Täufer in grausamer Lust den Kopf abschlagen läßt, sondern Salome, die die Hofgemeinschaft des Herodes und ihre Rolle als Frau verrät, indem sie den Hinterhof ihrem Platz an der Tafel im Palast vorzieht und als Dank für einen Tanz den Kopf des Propheten Johannes verlangt. Den Kopf eines Propheten, dessen Tod Herodes fürchtet wie seinen eigenen, den Kopf auch eines Propheten, der (bei Schleef) zu Salome sagt: „Ich anerkenne keine Frau“, worauf diese, eine frühe Feministin, schlagfertig kontert: „Wer ist deine Mutter?“

Für die Freiheit, das Äußerste zu fordern, muß Salome sterben. Bei Wilde sagt Herodes: „Man töte dieses Weib!“ Bei Schleef wird das Problem vergesellschaftet, und der Chor entscheidet: „Hackt dieses Vieh in Stücke.“ Tatsächlich baumelt Salome im letzten Bild blutüberströmt an einem Bein von der Decke wie geschlachtetes Vieh. Hart. Ziemlich hart in dieser Konkretion, aber nicht pathetisch, warum eigentlich nicht? Vielleicht, weil Schleef im Gegenzug alle symbolischen Handlungen der Stückerzählung eliminiert hat. Salome küßt den abgerissenen Kopf des Johannes nicht wirklich, ihr Tanz der sieben Schleier wird nur behauptet, und überhaupt sehen sich die Figuren beim Sprechen nie an, sondern vollziehen Verrat und Bestrafung gleichsam rituell.

Darin scheint diese Inszenierung übrigens direkt die Dramaturgie „Droge Faust Parsifal“ zu illustrieren, dieses 500seitige Kompendium aus Philologie, Monographie und Biographie, dessen Detailfülle der breite Strom der Schleefschen Sprache geradezu highwayartig an einem vorbeiführt und das beim ersten Lesen vor allem angenehm verwirrt. Das Motiv des Individuationsprozesses eines einzelnen durch Verrat an der durch Drogenkonsum zusammengehaltenen Gruppe untersucht Schleef im Buch vor allem in Goethes „Faust“ und Wagners „Parsifal“. Auf der Bühne entwickelt er es inklusive der „Rückführung der Frau in den zentralen Konflikt“ anhand von „Salome“ fast modellhaft und wunderbar sinnlich.

Nach dem Eingangsbild, das einem Ruhe zu rätselnder Versenkung gab, beginnt das Spiel längs der metallischen Stege, also genau auf den Achsen, die ein christliches Kreuz beschreiben. Die Rückwand hinter der obersten Zuschauerreihe ist ebenfalls metallisch verkleidet und stellt die Wand zum Palast dar, über der ein elfköpfiger, priesterlich gekleideter Chor (im Programmheft stehen zwölf Namen – Abendmahlgruppe!) herauslugt und den Text der Palastsklaven sowie der Palastgäste (Juden, Römer) spricht. Aus einer Tür in der Palastwand entspringt der Treppensteg, der weit hinunter bis zur kahlen Bühnenrückwand führt, an der Johannes an dem Armen aufgehängt ist und von Jesu Ankunft auf Erden und dem Ende des babylonischen Treibens unkt.

In diesem ausgereift-ausgreifenden Ambiente nun das Schleefsche Personal: der Chor der Bediensteten (Kai Scheve, Kai Hufnagel und José Antonio Roque- Toimil) rappt die Treppe vom Palast hinab auf den Hinterhof, Salome (Ursina Lardi) entflieht in weißem Hemd auf Plateausohlen dem höfischen Gelage. Der Chor zitiert sie zurück: „Der König erwartet/ wir prosten euch zu“, sie aber kreischt: „Ich bin der Verrat, ich bin der Ungehorsam“ und bleibt. Herodes (Helmut Mooshammer) wiederum hat eine gutmütige Punkerfrisur, aber blutverkrustete Beine, seine Frau Herodias (Bibiana Beglau) trägt ein Schuppengewand, Metallspitzen auf den Fingern und einen Schild auf dem Kopf. Fisch, Vogel, Insekt? Später kriecht sie wie ein Hund die Treppe hinauf.

Die Chorarbeit des Ensembles ist akkurat, die Hauptdarsteller sind in der geboten harten Diktion nuancenreich und verschmitzt, zeigen in der archaischen Choreographie, die Schleef immer wieder kontrolliert auf den Boden stampfen läßt, auch soviel plötzlichen, irgendwie (ja!) keuschen Sex, daß diese Aufführung zum wahren Fest gerät. Dann wieder staunt man über die Illumination, die gleißend aus der Tür zum Palast strömt und sich in das diffuse Nachtlicht mischt, das durch zerfederte Wolkenschatten unterbrochen über der Bühne hängt. Manchmal ist es auch ganz dunkel. Ein strenges Spiel, bei dem jede Geste und Betonung das Ganze entschlüsselt – und das sich zuweilen doch kurz auflöst in scheinbar privatem Getändel der Bediensteten oder in Konfusion des Chores.

Wenn am Ende das Individuum geschlachtet und auch die Gruppe zerstört ist, öffnet sich, mitten im Applaus, noch einmal die Bühne, und alle nehmen ihre Positionen vom Anfangsbild ein. Die Dame im Rotgoldenen erkennt man jetzt, ist nicht Salome, sondern ihre Mutter (die sich extra wieder umgekleidet hat), und der Mann auf dem Steg nicht Johannes, sondern ein junger Syrer aus der Gruppe der Bediensteten, der sich wegen Salome umbringt. Was immer man eingangs vermutete, das Rätselbild verweist mit der von ihrem zweiten Mann und früheren Schwager Herodes zurückgewiesenen und vom Volk als Hure geschmähten Königin im Zentrum auf einen Aspekt der Geschichte, der nur am Rande behandelt wurde – ein genialer Strich Schleefs durch die eigene Rechnung, der die soeben vollendete Tragödie nur als Variante kenntlich macht, und zu dessen Enthüllung der Regisseur, der sich im Frack und mit weißer Fliege feierlich unter die Schauspieler geschmuggelt hat, fast ein bißchen lächelt.

„Salome“ von Oscar Wilde/Einar Schleef. Regie, Bühne, Kostüm, Licht: Einar Schleef. Mitarbeit: Susan Todd. Mit: Bibiana Beglau, Robert Beyer, Kai Hufnagel, Ursina Lardi, Kai Scheve, Helmut Mooshammer, José Antonio Roque-Toimil und andere. Düsseldorfer Schauspielhaus

„Droge Faust Parsifal“ von Einar Schleef. Suhrkamp Verlag. 494 Seiten. 56 DM