■ Soziale Grundsicherung – die Linke muß eines ihrer wichtigsten sozialen Projekte für die Zukunft flottmachen
: Wer hat Rechte am Sozialprodukt?

Alle reden über soziale Grundsicherung. Was vor zehn Jahren als sozialpolitisches Projekt linke Herzen höher schlagen ließ und für reichlich Provokation sorgte, erlebt heute eine merkwürdige Renaissance. Seit einiger Zeit taucht der Begriff überall auf, ohne mit der ursprünglichen Forderung nach garantierter Existenzsicherung etwas gemein zu haben. So spricht Rudolf Scharping (SPD) ebenso gern von sozialer Grundsicherung wie Kurt Biedenkopf (CDU), der sein neoliberales Rentenkonzept mit dem Begriff ummäntelt. Auch die Grünen mischen bei der Sprachverwirrung mit, indem sie einer liberalen Umwidmung der Sozialhilfe das Etikett Grundsicherung aufpappen. Der Begriff soziale Grundsicherung ist ganz gegen den Trend noch immer positiv besetzt.

Offensichtlich ist die Sehnsucht der Menschen nach Sicherheit noch nicht ganz von der Tagesordnung verschwunden. Nicht alle scheinen unheimlich scharf darauf zu sein, endlich dem regulierenden Staat zu entrinnen und alle Lebensrisiken eigenverantwortlich und privatissime zu meistern. Liegt hier nicht eine Chance, soziale Sicherheit gegen den Zeitgeist zu verteidigen und mit emanzipatorischen Bedürfnissen zu verbinden?

Doch viele Linke ersticken derweil ihre eigenen Diskussionen. Barg die Forderung nach sozialer Grundsicherung in den achtziger Jahren noch Raum für kühne Träume vom Reich der Freiheit jenseits protestantischer Arbeitsethik und konnte damals die Idee, gegenüber der Gesellschaft einen Rechtsanspruch auf gesicherte Existenz durchzusetzen, noch für eifrige Debatten sorgen, so ist die Umwertung des Themas heute zu einer Art Eignungstest für Realos gworden. Früher hätte es auf die Frage, wer das alles bezahlen solle, unisono eine Antwort gegeben: die mit dem Geld. Das sagt man heute nicht mehr. Manche Linke und Grüne führen sich in der Sozialpolitik wie Finanzbeamte auf und wundern sich dann, daß sie dauernd Beifall von CDU und FDP bekommen.

Dabei ist der Verteilungsspielraum für eine Mindestsicherung jenseits von Kleiderkammern und Behördenschikane seit Jahrzehnten beständig größer geworden. Das Volkseinkommen wächst und wächst – und insbesondere die privaten Geldvermögen sind in den vergangenen 16 Jahren um satte 350 Prozent gestiegen. Die Frage ist, ob die Linke die Kraft haben wird und haben will, eines ihrer vormals wichtigsten sozialen Projekte aus dem Klammergriff von Maastricht und Standorthysterie zu befreien und für die Zukunft flottzumachen. Wer die Wirtschaftsverbände vernimmt, die Sozialhilfe weiter kürzen wollen, um Platz für Niedriglöhne zu schaffen, müßte sich herausgefordert fühlen.

Sicher, die Diskussion in den achtziger Jahren hatte ihre Schwächen. So hat die Forderung nach mehr Zeit für Eigenarbeit häufig die männlich-kreative in Verein und Bürgerinitiative gemeint, seltener die profane zu Haus am Herd mit Kind. Feministinnen warfen immer wieder die drohende Zementierung der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung in die Debatte. Sie befürchteten, daß Frauen die ersten sein würden, die sich – abgespeist mit einem Mindesteinkommen – am Rande des Arbeitsmarktes wiederfinden. Nicht allerdings, um sich dort der Befreiung von falscher Arbeit hinzugeben, sondern um wieder einmal alleinverantwortlich für alle sorgenden und pflegenden Tätigkeiten zu sein.

Die Diskussion um die soziale Grundsicherung hat sich weniger an den ganz normalen Sozialhilfeberechtigten als vielmehr an den akademisch-ambitionierten Erwerbslosen mit Engagement in Bürgerinitiativen gerichtet. Aber der Anspruch war universell gedacht. Und über den Kern des Konzeptes bestand Einigkeit. Es ging darum, die Position des und der einzelnen gegenüber der Gesellschaft zu stärken, alle Lebensläufe abzusichern und Leistungen zu verbessern – für ein Leben unabhängig von staatlicher Kontrolle und Fürsorge. Grundsicherung als soziales BürgerInnenrecht. Grundsicherung aber auch als bescheidene Alternative zu Scheinselbständigkeit und prekärer Beschäftigung im Niedriglohnsektor und staatlichem Arbeitszwang in der Sozialfürsorge. So verstanden sind Modelle à la Biedenkopf, die jenseits vom Bedarf und unterhalb der Armutsschwelle angesiedelt und mit einem Lohnabstand zu unteren Einkommen verknüpft sind, eben auch keine soziale Grundsicherung.

Solange die neoliberale Ideologie, die auf Rationalisierung der menschlichen Arbeitskraft um jeden Preis setzt, das Denken beherrscht, ist eine neue soziale Absicherung der Bevölkerung mehr als ungewiß. Linke und Grüne werden gar nicht darum herumkommen, über Verteilungsfragen nachzudenken. Sie müssen Vorschläge machen, wie Rechte am Sozialprodukt überhaupt entstehen sollen, wenn Teile der Bevölkerung von der Erwerbsarbeit ausgeschlossen bleiben. Nach wie vor gilt die Zeit, die jemand in der produktiven Arbeit verbringt, als Maßstab für gesellschaftlichen Status und Verteilung, obwohl immer weniger Menschen überhaupt noch in der Erwerbswelt aktiv sein können. Arbeit in Familien schafft und sichert auch heute keinen Status, obwohl es diese und andere Reproduktionsarbeiten sind, die den Zusammenhalt der zerbröselnden Gesellschaft zunehmend garantieren. Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik orientieren sich am männlichen Normalarbeitnehmer mit Normalarbeitsverhältnis und Normalarbeitszeit, obwohl inzwischen weniger als die Hälfte aller Arbeitsplätze dieser Norm entsprechen.

Selbstverständlich löst die Grundsicherung nicht sämtliche Probleme einer Industriegesellschaft im Umbruch. Aber heute werden menschliche Grundbedürfnisse als Restgröße zwischen vermeintlichem Wettbewerbsdruck und Maastrichtkriterien zerrieben. Die gesellschaftliche Garantie eines Existenzminimums jenseits der Armutsschwelle hingegen könnte den unausweichlichen Umbau der Arbeitsgesellschaft sozial abfedern. Wenn alle zur Not auf ein staatlich garantiertes Mindestbudget zurückgreifen könnten, entstünde Raum für Arbeitszeitverkürzung, für neue Formen des Arbeitens in einem öffentlich geförderten Beschäftigungssektor, für Umverteilung der unbezahlten Arbeiten, für ökologisches Wirtschaften jenseits des Wachstumsfetischismus.

Die Krise birgt auch Chancen. Je eher die Linken diese Chancen ergreifen, die neoliberalen Denkschablonen abstreifen und sich auf ihre eigenen Ideen besinnen, desto besser. Heidi Knake-Werner