Der Wohnort Gottes

Der 27. Evangelische Kirchentag fand nicht, was er dringend suchte: Den Weg zu sozialer Gerechtigkeit  ■ Aus Leipzig Jan Feddersen

Er mochte es sich nicht verkneifen. Klaus Engelhardt mußte einfach noch einmal auf das Herzensanliegen eingehen, das er und seine Kollegen vom obersten Gremium der Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD) auserkoren hatten, unbedingt auf dem „ersten gemeinsamen Kirchentag im Osten unseres Landes nach der Wende“ zur Sprache zu bringen: das des „Brückenschlags zwischen Ost und West“. Dieser habe stattgefunden, fand nicht nur der Ratsvorsitzende der EKD, und das sei ein „kleines Wunder“, bemerkte Kirchentagspräsident Rainer Meusel.

Tatsächlich war dieser Kirchentag kaum zu unterscheiden von jenen, die einmal in Hamburg, Düsseldorf, Berlin oder München stattgefunden haben. Man feierte und sang und betete fünf Tage in einer gemeinsamen Stadt. Daß Leipzig bis vor sieben Jahren noch DDR war – na und? Einheimische, so stand in der Lokalpresse, begrüßten die besseren Straßenbahnverbindungen und die vielen Menschen, die erheblich zur Belebung der Innenstadt beigetragen hätten.

Kirchentagsbesucher selbst verhielten sich, wie sie sich immer verhalten – suchend nach Kneipen und Kirchen, anstehend an Imbissen und harrend in den Schlangen bei McDonald's. Daß das alte und das neue Messegelände, die Zentren des evangelischen Geschehens, eine Fahrtstunde auseinanderlagen, kümmerte wenig. Man vertrieb sich klampfend und singend und redend die Zeit. Aber ob das die Leipziger berührt hat? Es war nicht ersichtlich. Jedenfalls hat vor zwei Jahren in Hamburg auch niemand gefragt, ob der Kirchentag die Bewohner der Innenstadt interessiere.

Die Veranstaltungen, welche sich um ein besseres Ost-West- Verständnis mühten, waren gut besucht. Aber es waren die gleichen Interessierten mit den gleichen Bekenntnissen, die auch andernorts zum gleichen Themen zu sehen und zu hören sind. Auch die Debatte, an der der frühere Leipziger SED-Chef Roland Wötzel und die Bürgerrechtlerin Ulrike Poppe teilnahmen („Ist Versöhnung möglich?“), übte sich in munterer Routine: Neues war nicht zu hören und war wohl auch nicht erwünscht. Viel Lärm also um nichts? Der Wunsch der EKD nach Ost-West-Verständigungspädagogik wirkte wie eine Schimäre, die als nette, aber unnötige Geste daherkam.

Trotzdem war dieser Kirchentag in anderer Hinsicht ein besonderer. Dieses Mal schien zwar das Motto gut getroffen. „Auf dem Weg der Gerechtigkeit ist Leben“ spiegelte offensichtlich genau die Ängste wider, die inzwischen die meisten Menschen in der Republik spüren. Der Erfurter Altprobst Heino Falcke, der wegen seiner Unterschrift unter die „Erfurter Erklärung“ („Dieses Land braucht eine andere Politik und eine andere Regierung“) sich den Ärger vieler CDU-Christen zuzog, bekam gestern auf dem Abschlußgottesdienst immer dann den stärksten Beifall bei den 90.000 auf den Rängen, wenn er konkret auf die soziale Situation in der Bundesrepublik einging. „Der Standort Deutschland“, so Falcke, „soll wieder zum Wohnort von Gottes Würde werden.“ Auch die flammenden Worte von Friedrich Schorlemmer und anderer prominenter Theologen während der Diskussionen in den Foren und Podien über die „soziale Wüste“, zu der die Bundesrepublik zu werden drohe, schienen Kirchentagsbesuchern aus der Seele gesprochen.

Aber vielleicht essen Angst diese Seelen auch auf. Eine Aufbruchstimmung wie 1981 in Hamburg angelegentlich der Friedensbewegung, gar Emphase wie Ende der sechziger Jahre in Stuttgart für eine gesellschaftliche Atmosphäre des Rebellischen und Experimentellen – das fehlte in Leipzig völlig. Man war offenbar ratlos. So bekam der Bildungsexperte Hartmut von Hentig am Freitag nachmittag bei einer Diskussion über die Zukunft des Parlamentarismus schon Beifall dafür, daß er sich eine Volksvertretung ohne Parteien wünschte und damit in das Lied allgemeiner Parteienverdrossenheit einstimmte. Da war es CDU-Fraktionschef Wolfgang Schäuble ein leichtes, auf derlei Fadheiten „nüchtern“ zu reagieren und auf die Erfolge der bundesdeutschen Demokratiegeschichte zu verweisen: „Es bewegt sich doch etwas, wenn auch langsam. So ist das in einer Demokratie, wo es um Interessen geht.“ Er bekam dafür nur so viel Applaus, daß kein Gefühl von Unhöflichkeit zurückbleiben mußte. Trotz allem Jubel für populäre Losungen herrschte auch Ratlosigkeit. Auch früher ließ sich kein Kirchentagsvolk zu Geduld hinreißen, aber in Leipzig ahnten die meisten Teilnehmer, daß es schlichte Lösungen für die Krisen der Welt nicht gibt.

Überhaupt sind alle Fragen, die das linksliberale Kirchenmilieu seit Ende des Zweiten Weltkriegs zu stellen hatten, im wesentlichen beantwortet – ob nun im Sinne von Multikulti, alternativen Lebensformen, eines Ausgleichs mit der Dritten Welt, des Feminismus oder des Pazifismus. Der Streit von früher liegt nun eingebettet im Konsens dessen, was für weltlich zugewandte Christen wichtig ist. Nichts brennt mehr wirklich unter den Nägeln. So bekam die Initiative „Bundesrepublik ohne Armee“ nicht einmal die nötigen 5.000 Unterschriften für ihr Begehr.

Zorn? Ein biblisches, doch mittlerweile verpöntes Wort unter modernen Christen. Zudem ist ein Feind, ein zu Bekehrender nicht in Sicht. Womöglich taugt die Regierung in Bonn nichts. Aber genießen die anderen deswegen mehr Kredit? Kaum. Johannes Rau, der seinen Leipzig-Besuch wegen Zahnschmerzen früh abbrechen mußte, bekam es zu hören: „Die SPD wäre auch nicht besser.“ Aber auch Gunda Röstel von den Grünen sagte über die Zukunft Deutschlands nichts, was sich bei ihrem Publikum wie eine Erweckung auswirkte. Ihr Satz, daß „die fehlende Lust auf Zukunft“ die „Kehrseite der jahrzehntelangen Sattheit“ sei, war nicht das, was man von einer Funktionärin der einstigen Antipartei-Partei zu hören hoffte.

In zwei Jahren trifft sich die Gemeinde in Stuttgart. Bis dahin wird geklärt sein, ob das Thema Gerechtigkeit auch in der evangelischen Kirche drängend wird. Kirchentagspräsident Rainer Meusel rief schließlich dazu auf, aus der „Zuschauergesellschaft“ herauszutreten. Er sagte dies sehr freundlich. Ob man ihn erhört, ist offen.