„Shanghai wird die Siegerin sein“

Die Stadt an Chinas Küste ist Konkurrentin Hongkongs. Welche Metropole wird nach der Rückgabe der Kronkolonie Wirtschaftszentrum der Volksrepublik? Drei Karrierestudentinnen sind sich einig  ■ Aus Shanghai Georg Blume

In Peking erreichte mich eine E-Mail: „Kommen Sie wieder nach Shanghai! Sie haben gesehen, wie sehr wir uns in den letzten Jahren verändert haben und wie offen und ehrlich wir geworden sind. Herzliche Grüße von Ihren Freunden von der Jiaotong-Universität.“ Die Überschwenglichkeit, die aus den Zeilen meiner angeblichen Freunde sprach, erinnerte an ein altes Pekinger Vorurteil: In Shanghai seien die Menschen aggressiv bis arrogant und litten an einem Superioritätskomplex.

Jiaotong ist der richtige Ort, um mehr über das Shanghaier Selbstverständnis vor der Rückgabe Hongkongs an China zu erfahren. Längst müssen die beiden chinesischen Küstenmetropolen im Wettbewerb um das Vertrauen von Investoren, Bankiers und Politikern buhlen. Jeder Dollar, der nicht nach Shanghai fließt, kommt Hongkong zugute. Und das gilt natürlich auch umgekehrt. Vor allem Shanghai aber benötigt dringend ausländisches Kapital zur Restrukturierung seiner Industrien. So hat die Aufholjagd begonnen: verzweifelt zwar, angesichts der ökonomischen Freiheiten Hongkongs, welche Peking in Shanghai nie dulden wird, doch nicht aussichtslos. Darin sind sich die Studenten der Jiaotong-Universität einig.

Der neue Campus der alten Eliteuniversität liegt weit außerhalb der Stadt. Es empfiehlt sich, die neue U-Bahn bis zur Endstation im Süden zu nehmen. Aufgrund des für chinesische Verhältnisse teuren Fahrpreises von umgerechnet annäherend 50 Pfennig herrscht in der Bahn angenehm wenig Gedränge. Ohnehin bietet die U-Bahn die einzige Möglichkeit, dem Verkehrschaos der 13-Millionen-Einwohner-Metropole zu entkommen. Dann geht es weiter: Entlang riesiger Industriegebiete findet der Fahrer den Weg vorbei an Feldern, wo Bauern mit Strohhut im Matsch der Reisfelder Handarbeit verrichten. Auf ihre Arbeit, die nahen Fabriken und den fernen Dunst der Großstadt schaut man herab, als wir uns schließlich auf der Panoramaterrasse im sechsten Stock der Jiangtong-Bibliothek niederlassen. Der Anlaß: Drei chinesische Karrierefrauen aus dem besten Postgraduiertenprogramm des Landes sollen ihre Visionen für Shanghais Zukunft benennen.

Li Renjie – kurzgeschorener Nacken, rote Lippen, weißer Rock – ist mit 26 Jahren die jüngste und ungeduldigste unter den angehenden Jungmanagerinnen. Sie stammt aus dem nahen Nanking, arbeitete nach dem Studium für ein chinesisches Wertpapierhaus und könnte nach allem, was sie sagt, längst an der Wall Street tätig sein. „Die Volkswirtschaft profitiert vom Luxus“, ruft sie, als ihre Kommilitoninnen die ungerechte Einkommensverteilung zwischen Chinas Küste und dem Hinterland abwägen. Doch Lis Wahlheimat liegt nicht im kapitalistischen Westen: „Peking ist zu politisch, und in Hongkong arbeitet man wie die Japaner. Ich arbeite, um zu leben. Deshalb bleibe ich in Shanghai. Wozu ins Ausland gehen, wenn alle Welt zu uns kommt?“

Lis Shanghai muß man nicht lange suchen. In Wirklichkeit ist die Stadt zweigeteilt. Auf der rechten Seite des Huangpu-Flusses, hinter den vorrevolutionären Prachtbauten, werden die alten Kolonialviertel zu neuem Leben erweckt: Kaufhäuser, Bars und Restaurants entstehen neu, wo vor dem Krieg Tanz und Ballett für Geldmagnaten und Gangster aufgeführt wurden. Welch ein Glück für die Stadt, daß die Kulturrevolution zwar Tempel und Klöster, aber nicht die vielen Renaissancenachbauten, Art-deco-Wolkenkratzer und neogotischen Bürohäuser der alten Shanghaier Innenstadt zerstört hat. So erstrahlt die stolze Nanking-Straße, bis in die dreißiger Jahre Ostasiens führende Kaufmeile, noch einmal im neuen Glanz und streitet um Zulauf mit der modischeren Huaihai- Road, die für ihre französischen Cafés und Karaoke-Bars bekannt ist. Leicht vorzustellen, daß Li hier demnächst ihre ausländischen Geschäftspartner ausführt.

Büro und Wohnung aber würde die Wertpapiermanagerin zur Linken des Huangpu-Flusses beziehen, im seit 1992 neuaufgebauten Stadtteil Pudong. Wo vor fünf Jahren Felder und Fabriken eine öde Flußmündungslandschaft bedeckten, erhebt sich heute eine Skyline, die an Abenden „schon ein bißchen wie Tokio oder New York schimmert“ (Li). Allein im neuen Finanzbezirk von Pudong, Lujiazu, wurden 168 Neubauten mit mehr als 20 Stockwerken hochgezogen. Das Abstoßendste unter den Bauwerken ist ein Fernsehturm Marke Berlin-Alexanderplatz.

Vergleichsweise schlicht wirkt hingegen das neue Börsengebäude, eine streng modern gehaltenen Imitation des Arc de Triomphe in Paris. Die Börse – bislang nur experimentell in einem alten englischen Hotel untergebracht – verkörpert wie keine andere Institution den wachsenden Einfluß westlicher Maßstäbe. Li glaubt, daß es die Kommunisten diesmal ernst meinen: Der zukünftige Börsensaal wird rein räumlich der größte auf der Welt sein.

Dennoch ist die Zukunft des Finanzplatzes Shanghai heiß umstritten. Die Deutsche Bank unterhält hier nur eine kleine Repräsentanz. Alle großen Geschäften wickelt sie in Hongkong ab. Ganz anders die japanischen Banken: Allein in den letzten zwei Jahren lockten sie japanische Direktinvestitionen in Höhe von fast drei Milliarden US- Dollar nach Shanghai.

Mit 29 Jahren, einer Ingenieursausbildung, Erfahrungen in einem Handelshaus und Ambitionen im Finanzgeschäft wäre Xu Weilin die ideale Kandidatin für einen Führungsjob bei einer japanischen Bank. Xu stammt aus Ningbo, an der anderen Seite der Jangtse- Mündung – eine Stadt, die Shanghai traditionell mit Arbeitsimmigranten versorgt. Die Ingenieurin im grauen Bürokostüm argumentiert traditioneller als Li: „Der Hafen von Hongkong war durch den Zufall der Geschichte 150 Jahre lang geöffnet. Der Hafen von Shanghai ist erst seit fünf Jahren offen.“ Deshalb glaubt Xu, daß Shanghai alle Chancen hat, Hongkong einzuholen. „Shanghai wird die Siegerin sein, weil Shanghai die Geschichte Chinas hinter sich hat“, sagt Xu. Ganz ähnlich denkt der japanische Manager Akamatsu: „Hongkong ist nicht China. Deshalb liegen heute zwanzig Jahre zwischen Shanghai und Hongkong. Aber die chinesische Geschwindigkeit ist sehr hoch.“

Was die Jungmanagerin Xu mit den Japanern vor Ort verbindet, ist die Hochachtung für Shanghais traditionelle Industrien: Auto, Chemie und Elektronik. Das Kalkül ist einfach: Was Japan groß gemacht hat – eine vorrauschauende Industriepolitik, konzentriert auf Schlüsselindustrien, gekoppelt mit starken Banken und einem schwachen Aktienmarkt –, kann auch China groß machen. Eine freie Börse wie in Hongkong braucht man dazu nicht unbedingt. Auf Kapital und Arbeitskraft kommt es an. Shanghai verfügt über eine Million Techniker, und die Sparreserven der Chinesen sind legendär. „In keiner Stadt Chinas wird härter gearbeitet als bei uns“, glaubt Xu. Das hören japanische Investoren gerne.

Eines aber werden die reichen Nachbarn von den Inseln nicht vermögen: Die Shanghaier Lebensart zu dominieren. „Shanghai bedeutet Lebensstil“, meint die 29jährige Literatur- und Sprachenstudentin Qian Ji. Sie ist die einzige gebürtige Shanghaierin im Kreis der Studentinnen. Drei Jahre Managementtätigkeit in einer Kosmetikfirma hat Qian bereits hinter sich. Zu ihrem spontanen Auftritt paßt der blauweiße Aufzug im Sportkleid und Nike-Schuhen. Ihre Wünsche setzen dort an, wo Shanghai vor dem Krieg aufgehört hat. Damals war die größte Stadt Chinas Mode- und Kulturhauptstadt. Heute glaubt Qian an ihre Zukunft im Modegeschäft. „Wir Shanghaier sind offen, klug, arrogant und selbstverliebt, deshalb sind wir auch sehr modebegeistert“, macht sie sich Mut. „Als mir ein Besucher sagte, hier lasse es sich wie in Paris leben, gefiel mir das sehr.“

Der Vergleich mit Paris ist nicht neu. „Shanghai vor den Kommunisten war eine Art New York oder Paris in orientalischer Umgebung“, schrieb ein früherer Gouverneur von Hongkong. Tatsächlich ist der Begriff nicht mehr so abwegig wie vor ein paar Jahren: Die Zweiteilung der Stadt in ein altes „rive droite“ und ein modernes „rive gauche“, die Verwandtheit des nicht erwähnenswerten, aber unübersehbaren Fernsehturms mit dem berühmteren Eiffelturm und die kreative Triumphbogen-Version des neuen Börsengebäudes zwingen geradezu zum Vergleich mit der französischen Hauptstadt. Vielleicht ist sogar das neue Printemps-Kaufhaus das heimliche Zentrum der Stadt. Kein anderer Bau wirkt so anziehend auf die Massen. Draußen aber stehen Kaffeetische mit Sonnenschirmen in den Farben der Tricolore.

Rot und nicht Blau-Weiß-Rot ist die Farbe Shanghais. Doch die Weltläufigkeit, mit der sich die drei Studentinnen die Zukunft der Stadt ausmalen, ist nicht vorgetäuscht. In den richtigen Kreisen ist man heute wieder offen und ehrlich in Shanghai. Li, Xu und Qian brauchen kein Blatt mehr vor den Mund zu nehmen, und ihre Zukunft scheint gemacht. Wer redet dann noch von Hongkong?