Unbehagen bleibt

■ betr.: „Den massenhaften Miß brauch gab es nie“, taz vom 18.6. 97

Was sind „allzu ideologische und feministische Werbekampagnen“ gegen sexuellen Kindesmißbrauch, die „weitere zweifelhafte Verfahren provozieren“ könnten? Was ist mit „Eigenjustiz“ gemeint, die Einrichtungen wie Wildwasser angeblich praktizieren? Warum sollen Kinderschutzdienste nicht zur Aufklärung von Straftaten beitragen? Wie ist es zu verstehen, daß ein „Freispruch aus tatsächlichen Gründen“ sich in „zweiter Linie“ als ein „Freispruch mangels Beweisen“ erweist?

[...] Ein wesentlicher Bestandteil der Arbeit von feministischen Beratungsstellen wie Wildwasser ist die Informations- und Öffentlichkeitsarbeit zum Thema sexuelle Gewalt gegen Mädchen und Frauen. Das bedeutet auf dem Stand der aktuellen Fachdiskussion u.a. über Täter/Täterinnen, Handlungen der Täter/Täterinnen sowie über Dynamik und Folgen des sexuellen Mißbrauchs aufzuklären. Wichtigstes Ziel in der Beratungs- und Unterstützungsarbeit ist der Schutz der Mädchen vor (weiterer) sexueller Gewalt. Dies führt in einigen Fällen zur Strafanzeige und damit zu einem Beitrag zur Aufklärung einer Straftat. Sexueller Mißbrauch ist ein Offizialdelikt, das heißt, wenn Polizei oder Staatsanwaltschaft vom Verdacht des sexuellen Mißbrauchs erfährt, muß sie ermitteln – der Aufklärung der Tat liegt ein öffentliches Interesse zugrunde. Die Staatsanwaltschaft prüft, ob eine Straftat im Sinne des § 173 ff vorliegt, und eröffnet das Verfahren, wenn die Ermittlungen der Polizei abgeschlossen sind und Aussicht auf Erfolg besteht. Das Gericht bestellt die Gerichtsgutachten und hat dafür Sorge zu tragen, daß es den Gutachtern nicht an Fachkompetenz mangelt. Der/die Angeklagten gelten nach rechtsstaatlichem Prinzip als unschuldig, wenn ihnen die Tat nicht zweifelsfrei nachgewiesen werden kann. Der Umkehrschluß, es habe deshalb kein Straftatbestand in oben genanntem Sinne stattgefunden, ist nicht zulässig!

Für mich bleibt im Falle des Wormser Prozesses ein großes Unbehagen. Es wird deutlich, wie groß der Bedarf an sachgerechter Aufklärung bei allen beteiligten Fachgruppen ist, um solch einem komplexen Sachverhalt – „massenhafter Mißbrauch“ – gerecht zu werden. Sexueller Mißbrauch ist nicht definitiv auszuschließen, es scheint fast alles „schiefgelaufen“ zu sein, auf Kosten der betroffenen Mädchen und Jungen. Was mir bisher als sicher erscheint: Die vermeintlichen Täter/Täterinnen kommen wieder mal davon! Johanna Pitz, Mitarbeiterin

der Beratungsstelle gegen

sexuellen Mißbrauch

Wildwasser Oldenburg