Die Mär von der Spitzensteuer

■ Der Betriebswirtschaftler Otto Jacobs rechnete aus, wieviel Steuern deutsche Großunternehmen wirklich zahlen

Köln (taz) – „Deutsche Unternehmen unterliegen einer steuerlichen Gesamtbelastung von 60 bis 65 Prozent.“ Wer kennt es nicht, das Märchen vom deutschen Spitzensteuersatz? Und wer kennt es nicht, das ewige Loblied auf die Unternehmenssteuern, die in den USA und in den Niederlanden und überall um uns herum viel niedriger sind? Und daß deshalb im Hochsteuerland Deutschland die Arbeitsplätze verloren gehen?

Einer sah genauer hin und fand Erstaunliches. Der Betriebswirtschaftler Otto Jacobs nahm sich einfach die Bilanzen der 30 größten deutschen Unternehmen vor, verglich Gewinne und gezahlte Steuern. Heraus kam ein durchschnittlicher gezahlter Steuersatz von 29 Prozent (1993) und 31 Prozent (1994). Jacobs, Professor an der Universität Mannheim, fand auch besonders erfolgreiche Steuerstreber, die sich der Nullsteuer nähern. „Gelegentlich geht die Steuerquote gegen Null, bei der Allianz (0 Prozent), aber auch Siemens (7 Prozent) ist kein besonders aktiver Steuerzahler.“

Das Märchen vom deutschen Spitzensteuersatz beruht auf der Modellannahme, daß ein Unternehmen bei allen Steuern – Körperschafts-, Gewerbe-, Vermögenssteuer – je den theoretischen Höchststeuersatz zahlt, der noch 1989 galt. Außerdem wurde angenommen, daß das Unternehmen seine Investitionen nur mit Eigenkapital finanziert, keine Gewinne ausschüttet und keine Unternehmensanteile im Ausland hat.

Die Wirklichkeit sieht anders aus. Jacobs dazu: Die Körperschaftssteuer für ausgeschüttete Gewinne wurde seit 1989 stetig gesenkt, auf gegenwärtig 30 Prozent. Auch die Körperschaftssteuer auf einbehaltene Gewinne wurde gesenkt, auf gegenwärtig 45 Prozent. Drittens werden Investitionen nicht aus Eigenkapital, sondern vor allem mit Krediten finanziert – und die Zinsen mindern als Betriebskosten die Steuerlast weiter. Viertens schuf das Standortsicherheitsgesetz von 1993 zwar keine Arbeitsplätze, ermöglichte aber die steuerfreie Weiterleitung von steuerfreien Auslandserträgen. Und schließlich mindern auch noch steuerfreie Erträge und Subventionen im Zusammenhang mit der deutschen Vereinigung die Steuerlast.

Schließlich fand Jacobs noch einen weiteren Grund dafür, daß die Kluft zwischem theoretischem und tatsächlichem Steuersatz in Deutschland so groß ist. Gewinne aus ausländischen Unternehmen oder Beteiligungen sind seit 1993 gänzlich steuerfrei. Dies ist in rund achtzig Doppelbesteuerungsabkommen mit den wichtigsten Investitionsländern festgeschrieben. Da zahlen sich die Unternehmensaufkäufe im Ausland auch steuerlich aus. Werner Rügemer