Wie es euch gefällt

■ Die russischen Künstler Komar und Melamid haben den Kunstverstand der Info-Elite im World Wide Web getestet

Als Vitali Komar und Alexander Melamid 1977 aus der Sowjetunion in den Westen emigrierten, stellten sie schnell fest, daß hier nicht die Partei, sondern die Meinungsumfrage herrscht. Angefangen mit der Sonntagsfrage „Wem würden Sie Ihre Stimme geben, wenn...“ bis zum Geschmackstest eines neuen Joghurts entgeht ihr kein Umstand des täglichen Lebens – mit Ausnahme der Kunst. Es mußte die altgedienten Dandys der Soz Art reizen, diesem Mangel abzuhelfen. Sie hatten schon immer die Symbole der Rechtgläubigkeit gegen den Strich zu bürsten gewußt. Also beauftragten sie das Bostoner Marktforschungsunternehmen Marttila & Kiley mit einer Erhebung zum Kunstgeschmack der Amerikaner und Russen. Nach Auswertung dieser ersten Umfrage malten Komar und Melamid das meistgeliebte und bestgehaßte Bild der Amerikaner und Russen. Unter dem Titel „The People's Choice“ stellten sie es in New York wie in Moskau aus.

Das war vor drei Jahren. Inzwischen hat sich das Internet als globale Galerie etabliert. Das Dia Center, ein privat finanziertes, nichtkommerzielles Zentrum für Gegenwartskunst, hatte gemeinsam mit der Chase Manhattan Bank schon die Ausweitung der Umfrage auf weitere fünfzehn Länder wie Frankreich, Dänemark, die Türkei und Island unterstützt. Es lag daher nahe, nun auch das Internet in die Erhebung einzubeziehen. Die sogenannte Info- Elite, die keine nationale Bevölkerung repräsentativ vertritt, schien als Kontrollgruppe für die nationalen Abweichungen des Kunstgeschmacks sogar überaus geeignet.

So füllten denn zwischen August 1995 und März 1997 genau 3.001 Web-Besucher Komars und Melamids Fragebogen aus, der unter www.diacenter.org/ abrufbar war. Brav erteilten die Netizens im Multiple-choice-Verfahren Auskuft über politische Orientierung, Einkommen, Bildungsgrad, Alter und Geschlecht: 83,24 Prozent sehen sich als liberal, 81,54 Prozent plädieren für mehr Steuermittel für die Kunstförderung. 58,31 Prozent veranschlagen ein mittleres Einkommen, 71,84 Prozent haben einen Universitätsabschluß; 24,19 Prozent sind unter 25 Jahre, 34,16 Prozent unter 34 Jahre und 19,83 Prozent unter 44 Jahre alt; 56,51 Prozent sind männlich, 42,52 Prozent weiblich.

Die Fragen zur Kunst bezogen sich nicht auf bestimmte Kunstwerke, sondern auf allgemeine Charakteristika von Bildern. Komar und Melamid wollten wissen, welches die Lieblingsfarbe der Befragten sei, ob Freilichtszenen Innenräumen vorzuziehen seien oder abstrakt-geometrische organisch-runden Formen. Als Sieger im Geschmackstest stellten sich Blau, Freilichtszenen und organische Formen heraus. Komar und Melamid setzten sich an die Arbeit und malten das Bild, das nach diesem Ergebnis allen gefallen muß (www.diacenter.org/km/most.jpg), und das Bild, das nach denselben Kriterien niemandem gefallen kann (www.diacenter.org/km/ least.jpg).

Interessanterweise unterscheiden sie sich kaum. In der realen Welt lieben die realen Amerikaner eine blaue Landschaftsidylle, röhrende Hirsche und George Washington, was sie hassen, ist eine Abstraktion mit Dreiecken und viel Rot. Die Netizens dagegen verabscheuen im Internet das Stillleben gleichermaßen. Ihnen gefällt eine vornehmlich in Weiß gehaltene Szene in einem Kücheninterieur: Unter einem Bord mit Geschirr sitzt ein gefleckter Dalmatiner, neben dem ein dominant blau gehaltenes Bild hängt, das Picasso, Matisse und die Skyline von Manhattan kombiniert. Was sie gar nicht gern sehen, ist der Blick auf ein Bord voller Bücher. Zumal wenn dort ein taschenbuchgroßes Bild steht, in dem ein Norman- Rockwell-Knabe über einem Sessel lümmelt, während im Hintergrund ein Foto von Salvador Dali zu sehen ist.

Die malerische Übersetzung des Fragebogens läßt sich entschlüsseln: Natürlich machen die Bücher stutzig, aber da die Netizens – wie die Amerikaner und die Russen – geometrisch harte Winkel weniger mögen als organisch- runde Formen, warum sollte man den rechteckigen Winkel nicht in Büchern sehen?

Daß sich die Bilder formal so ähnlich sind, könnte darauf hinweisen, daß der Fragebogen für diese Klientel die Fragen nach der Form tatsächlich nicht hinreichend differenziert. Die angesichts der Scheußlichkeit beider Bilder keimende Hoffung, daß „The Most Wanted“ und „The Least Wanted Painting in the Web“ überhaupt keine Aussage über den Geschmack der Netzbenutzer zulassen, ist trotzdem verfrüht. Schon die Bilder von „The People's Choice“ aus der realen, nationalen Welt waren im Netz zu betrachten. Besucher aus Cyberspace konnten daran Komars und Melamids Methode studieren, die satirisch mit einem bekannten logischen Fehler spielt: Was für eine einzelne Komponente richtig ist, muß nicht auch für die Zusammensetzung der Komponenten zu einem Ganzen richtig sein.

Wie immer also das beliebteste und bestgehaßte Bild der Leute aussehen mag, so, wie Komar und Melamid es malen, sicher nicht. Nur trifft die Satire nicht die Kunst, sondern die Politik der Meinungsumfragen. Wenn alle Spieler einer Mannschaft gut sind, kann die Mannschaft trotzdem schlecht sein. Komar und Melamid machen sich einen Spaß daraus, diesen Unterschied zu ignorieren, doch es geht ihnen keineswegs darum, eine vorgeblich volkstümliche Kunst zu denunzieren. Sie wollen – netzkonform – eine Debatte inszenieren. Wie sähe die Kunst aus, die der größten Zahl von Menschen gefällt? Und warum hat die Kunst das Privileg, nicht dem Geschmack der Mehrheit gehorchen zu müssen?

Zweifellos intelligente Fragen an den Kunstbetrieb. Die Datenreisenden im Internet beteiligten sich in ihren „Letters to Komar & Melamid“ (www.diacenter.org/ km/letters.html) zwar heftig an der Diskussion, aber die wenigsten witterten den Braten. Denn die Frage nach dem herrschenden Geschmack erwies sich hinterrücks als Frage nach dem Geschmack der herrschenden Bildungselite. Die Netizens vermuteten die böse Absicht dahinter, satirische Ergebnissen zu erzielen. Und typischerweise sah das Bildungskapital im Fragebogen auch eher das ökonomische Kapital getroffen, also die Chase Manhattan Bank: „Scheiße, nur eine Bank kann diese Bilder mögen. Ed“

Komar und Melamid allerdings bestehen darauf, daß Marttila & Kiley die Erhebung objektiv nach jenen Methoden durchgeführt hätten, die auch im Fall von Bill Clinton oder der National Football League angewandt werden. Sie schreiben: „Das Resultat, das sie uns übergaben, haben wir als Werkzeug, als unseren Pinsel benutzt.“

Das mag nun den multimedialen Kunstfreunden im Netz nicht unbedingt einleuchten. Verständnis fanden die beiden Russen jedoch sofort bei den neuen Profis der Online-Marktforschung. Zum Beispiel bei Thomec Smith. Er bot den Künstlern seine sachdienliche Zusammenarbeit an: „Wenn Sie oder das Dia Center eine weitere Umfrage planen, würden wir gern helfen. Wir haben das am weitesten entwickelte Marktforschungsinstrumentarium für das Internet. Siehe unsere Web User Studie unter www.websitesurveys.com“. Brigitte Werneburg

werneburg@compuserve.com