Michelin-Männchen des Verlangens

■ Hammoniale: drei Choreographien des Ballet de l'Opera national de Lyon

Sechs Wochen schon treffen sie die Hamburger mit ihren schweren Blicken von den Plakatwänden, harren sie auf dicken Beinen an allen Litfaßsäulen. Es ist kein leichtes, als Symbolfigur für das Festival der Frauen zu stehen. Für die 19 TänzerInnen des Ballet de l'Opéra national de Lyon war es so ermüdend, daß sie sich am Donnerstag bei der Premiere ihres Stücks Groosland auf Rollwagen auf die Bühne ziehen und von Bühnenarbeitern aufstellen ließen.

Maguy Marin, die sich dem Hammoniale-Publikum bereits letzte Woche mit ihrer eigenen Compagnie vorstellte, hat Groosland noch während ihrer Zeit als leitende Choreographin des Ballet de Lyon choreographiert. Das Stück behandelt genau das Thema, das Marin einst vom klassischen Ballett wegführte: Die Reduzierung der Tänzerin auf einen schönen Körper mit technisch perfekten Bewegungen. Um diese als arrogant zu entlarven, hat sie Frauen wie Männer in dick gepolsterte Ganzkörperanzüge gesteckt. Das Hamburger Publikum war begeistert von den drolligen Figuren, die zu Bachs Brandenburgischen Konzerten wie Michelin-Männchen über die Bühne wackeln. Humor- und liebevoll war der Tanz auch fraglos – mit unserem Schönheitsideal hat er in seiner Klischeehaftigkeit aber mitnichten abgerechnet. Die Dicken bleiben herzige Tölpel. Es darf geschmunzelt werden.

Contrastes, eine zweite Choreographie Marins aus ihrer Zeit mit dem Ballett, entwickelt dagegen hinter der komischen Oberfläche einen suggestiven Sog in die Welt der kleinen Büroangestellten als Welt der tragikomischen Wundersamkeiten. Aktenkofferwechsel werden bei den mechanischen Buster -Keaton-Enkeln zu wahren Höhepunkten, während Béla Bartoks Dissonanzen als perfekte Filmmusik erscheinen.

Den Höhepunkt des Abends bildet jedoch Love Defined von Bill T. Jones. Der US-Amerikaner, der über seine Arbeiten mit Arnie Zane bekannt wurde, löste Maguy Marin 1994 als Hauschoreograph des Ballet de Lyon ab. Love Defined ist nicht verspielt, sondern verstörend. Auf den ersten Blick am nähesten am klassischen Formenrepertoire, brechen die grazilen Figuren plötzlich wie kaputte Puppen, und ihre weißen Kleider werden in Sekundenbruchteilen zu Krankenhaus- oder Wärteruniformen. Zur eindringlich scheppernden Understatement-Musik von Daniel Johnston tanzen sie beeindruckende Bilder radikaler Marginalisierung und ausgemergelten Verlangens nach Teilhabe. Christiane Kühl

noch heute und morgen, 20 Uhr, Kampnagel k6