Ein Problem dieser Gesellschaft

■ betr.: „Atatürk als Gegenpol zu den Islamisten“, taz vom 3.6. 97

Dorothee Winden schreibt in ihrem Artikel, daß islamistische Listen an der TU ständig mehr Stimmen bekommen. Sie sollte dabei nicht vergessen, daß gerade die Studentinnen und Studenten aus der Türkei zu 80 Prozent Kinder von ImmigrantInnen sind. Das heißt, dies ist ein Problem dieser Gesellschaft, und es ist falsch, auf der Suche nach den Ursachen auf ein anderes Land, in diesem Fall die Türkei, zu verweisen.

Wenn diese StudentInnen religiös geworden sind und in den Moscheen islamistischer Organisationen beten, dann haben sie diese Orientierung hier erfahren. Sie haben hier die Schule besucht, haben ihren Sozialisierungsprozeß hier durchlaufen und haben hier Ablehnung und Nichtbeachtung erfahren.

Kemalismus ist ein Modell der Verwestlichung, ein (Form und Inhalt nach durchaus umstrittener) Weg in die Moderne. Nicht in der Türkei haben diese Menschen einen entgegengesetzten Weg eingeschlagen, sondern hier, im Westen selber. Warum diese Hinwendung zur Religion? Warum interessieren sie sich nicht für hiesige Politik, sondern für die der Türkei?

ImmigrantInnen stoßen hier auf Ablehnung, und ihnen wird verweigert, ein gleichberechtigter Teil dieser Gesellschaft zu sein. Wenn ein Interesse bestanden hätte, daß sie an dieser Gesellschaft teilhaben, hätten Schule und andere gesellschaftliche Institutionen mehr Einfluß auf sie gehabt, als sich alle Islamisten und religiösen Eiferer zusammen je erträumen könnten.

[...] Was hier und heute gefordert ist, ist ein gesellschaftlicher Konsens über eine wirkliche Partizipation von ImmigrantInnen, sind gleiche Rechte unter Anerkennung von Vielfalt und Verschiedenheit. Stereotype wie extremistische Kurden versus gemäßigte Kurden, islamistische Türken versus liberale Türken helfen da wenig. Und es bringt nichts, bei Fundamentalismus, gegenaufklärerischen und irrationalen Strömungen nur auf die jeweils anderen zu verweisen. Sie sind unser gemeinsames Problem und wir, Menschen deutscher und nichtdeutscher Herkunft, müssen uns zusammentun, um die erforderlichen Antworten zu finden. Riza Baran, MdA