Ein riesiger Fischer-Baukasten kreist auf der Erdumlaufbahn

■ Die Raumstation Mir ist ein Muster an angepaßter russischer Robusttechnik. Aber sie leidet an Altersschwäche

Was soll schon anderes passieren als eine Reihe von Pannen, wenn der Russe Technik in den Kosmos schickt, so die ersten Einschätzungen nach dem neuen schweren Unfall auf der Mir. Doch die Raumstation ist trotz aller Defekte vor allem eine Erfolgsstory. Am 19. Februar 1986 startete das zentrale Modul mit dem Namen „Mir“, was im Russischen sowohl „Friede“ als auch „Welt“ bedeutet. Seither kreist die Orbitalstation in 350 Kilometer Höhe auf einer leicht elliptischen Umlaufbahn und wird ständig ausgebaut.

Die Wohnzelle für die Kosmonauten selbst ist etwa 100 Kubikmeter groß und damit für Raumfahrtverhältnisse so weitläufig wie der Landsitz des Denver-Clans. Ein Teppich auf einer Seite der Station markiert den „Boden“. An der „Decke“ sind fluoreszierende Lichtstreifen befestigt. So soll eine möglichst irdische Umgebung simuliert werden, obwohl es in der Schwerelosigkeit des Orbits kein oben und unten gibt.

Jeder Astronaut hat sogar sein eigenes Zimmer – einen kleinen Verschlag mit einem Stuhl, dem Schlafsack und einem Bullauge –, falls mal ein Außerirdischer vorbeiguckt. Toilette und Dusche sind selbstverständlich. Und auch der Küchentisch, Zentrum des Wohngemeinschaftslebens im All, darf nicht fehlen. Immerhin haben die russischen Besatzungsmitglieder teilweise Rekordaufenthalte von über einem Jahr auf der Umlaufbahn hinter sich gebracht.

Wie ein Fischer-Baukasten können neue Sektoren und Versorgungsschiffe an den Kontroll- und Wohnabschnitt andocken. Die zylindrischen Module haben einen Durchmesser von meist 4 Metern und sind bis zu 13 Meter lang. Derzeit hängen fünf verschiedene Forschungszylinder (Module) an der Station. Sie untersuchen Galaxien oder pulsende Sonnen, ziehen biologische Kulturen im Schwerelosigkeits-Treibhaus groß, erforschen die Ozonschicht oder züchten Kristalle und Halbleiter.

Wie an einen internationalen Weltraumbahnhof dockt auch der US-Space-Shuttle „Atlantis“ an. Franzosen, Deutsche oder Briten sind ebenso willkommen – vor allem seit dem Ende der Sowjetzeit: Der russische Staat ist angesichts chronischer Pleite für jede Beteiligung anderer Staaten dankbar.

Der über 130 Tonnen schwere Mir-Komplex wird von 30 Meter breiten Solarzellen-Flügeln mit Strom versorgt. Durch die letzten Spuren der Atmosphäre und den Sonnenwind wird die Raumstation stetig abgebremst und stürzt daher in Zeitlupe ab. Gelegentlich heben zwei starke Triebwerke im Heck die Mir wieder auf die ursprüngliche Höhe an. Feineinstellung und Kurskorrekturen nach einem Zwischenfall wie dem jüngsten übernehmen 32 kleine Düsen.

Das nun zu Schaden gekommene Modul „Spektr“ war im Juni 1995 zur Station gestoßen. Es erforscht die Atmosphäre und tastet die Erdoberfläche mit seinen Instrumenten ab. Gleichzeitig dient es als Schlafraum für den Astronauten der Nasa, der die Experimente in Spektr betreut. Die Zahl der Kosmonauten in der Station variiert. Wenn die Ablösung kommt, drängen sich schon mal sechs Raumfahrer durch die Schleusen. Im Normalbetrieb sind es zwei bis drei.

Die Mannschaft will versorgt sein. Von Zeit zu Zeit dockt dafür ein unbemanntes Versorgungsschiff an. Diese Raketen namens „Progress“ bringen Wasser, Nahrung und Laborausrüstung für neue Experimente. Auf dem Rückweg transportiert die Kapsel die gewonnenen Forschungsdaten zur Erde. Manchmal wird eine Progress-Kapsel auch mit dem Müll der Mir gefüllt. Neue Crew-Mitglieder werden per Sojus-Raumkapsel eingeflogen.

Das Problem der russischen Raumfahrt-Agentur RKA und des eigentlichen Mir-Betreibers, des Raumfahrt-Konzerns Energiya, ist das Alter der Station. Immer öfter schmort ein Kabel, fallen Solarzellen oder Sauerstoffgeneratoren aus. Und die Versorgung vom Boden verspätet sich manchmal um Wochen, weil das Geld für den rechtzeitigen Start fehlt oder das Bodenpersonal wegen monatelang ausgebliebener Löhne streikt. Trotzdem gelang es den Kosmonauten bisher, ihre Arbeit fortzusetzen und alle Defekte mit bordeigenen Mitteln zu reparieren.

Die Mir-Crew soll auch Pionierarbeit leisten für die geplante internationale Raumstation „Alpha“. Die soll Anfang des nächsten Jahrtausends von den USA, Rußland und der EU gemeinsam gebaut werden und dann alles in den Schatten stellen, was bisher im Orbit kreiste. Die Erfahrungen der Mir sind dazu unverzichtbar. Reiner Metzger