Volltreffer: Beim bisher schwersten Unfall im All ist die mit drei Astronauten besetzte Raumstation "Mir" mit ihrem Versorgungsschiff kollidiert. Der Unfall hat eine ernste Energiekrise ausgelöst und ein schwarzes Loch in ein Modul gerissen

Volltreffer: Beim bisher schwersten Unfall im All ist die mit drei Astronauten besetzte Raumstation „Mir“ mit ihrem Versorgungsschiff kollidiert. Der Unfall hat eine ernste Energiekrise ausgelöst und ein schwarzes Loch in ein Modul gerissen. Gestern suchte die Besatzung nach Reparaturmöglichkeiten. Der Mission droht das Ende.

In den USA wächst der Unmut über die Pannen der Mir.

Der Knall im All

Es ist schummrig an Bord der Mir. Der amerikanische Astronaut Michael Foale bewegt sich wie in Zeitlupe in der russischen Raumstation. Bloß nicht hasten. Er muß seinen Atem sparen, denn der Sauerstoff ist seit Mittwoch knapp. Dabei hatte Foale gestern allen Grund zur Aufregung, denn er und seine beiden russischen Kollegen in der Raumstation Mir sind nur um Haaresbreite dem Erstickungstod entronnen.

Eigentlich lief alles normal: Gegen 1 Uhr, Moskauer Zeit, koppelt die Crew die kleine Versorgungsfähre „Progress“, gefüllt mit Müll, von der Raumstation ab. Ein Test. Wie geplant, manövriert Kommandant Wassili Ziblijew die Progress per Handsteuerung weg von der Mir. Dann läßt er sie einmal um die Station kreisen und stoppt sie kurz vor ihrer Andockposition. Foale und der dritte an Bord, der Russe Alexander Latsutkin, assistieren. Plötzlich, um 1.15 Uhr, setzt sich die Fähre aus noch ungeklärten Gründen von selbst in Bewegung. Ziblijew kann sie nicht mehr stoppen. Dann hören die drei Crew-Mitglieder ein leises Pfeifen. Die Fähre ist in eins der sieben Module hineingerammt, hat ein Leck geschlagen, nicht größer als eine Briefmarke, aber groß genug, um in kurzer Zeit die gesamte Atemluft der Station ins All zu blasen. Das Pfeifen kommt aus dem Spektr-Modul – das 1995 von den Amerikanern angedockt wurde. Bedrohlich fällt der Luftdruck auch im Hauptmodul ab. Gerade noch rechtzeitig gelingt es der Besatzung, die Luke zur Spektr zu schließen und die Katastrophe zu verhindern.

Doch der Schaden ist groß genug. Der Crash zertrümmert auch ein Sonnensegel und zerstört mehrere Stromaggregate. Die Energieversorgung der Mir wird um die Hälfte gekappt. Außerdem wird das Kühlsystem beschädigt – der schlimmste Zusammenstoß im Orbit aller Zeiten.

Entsetzen in den Kontrollzentren. Mit so wenig Energie ist die Mir nicht in der Lage, ihre Lebenserhaltungssysteme aufrechtzuerhalten, etwa die Sauerstoffgeneratoren. Die Crew dimmt das Licht in der Mir, schaltet alle unnötigen Systeme ab. Noch Stunden nach dem Unglück ist die Luft in der Station so dünn wie auf der Zugspitze.

Doch bald ist klar: Der Schaden stellt keine Lebensgefahr für die Besatzung dar. Denn für eine Flucht steht den Astronauten jederzeit eine Sojus-Rettungskapsel zur Verfügung. Doch an eine Evakuierung ist vorerst nicht gedacht.

In einer 20minütigen Krisenkonferenz mit der Bodenstation wurde gestern die Lage besprochen und nach Reparaturmöglichkeiten gesucht. Um das Leck zu dichten, müßte ein Astronaut in den Weltraum aussteigen. Die Besatzung könnte auch mit einem Raumanzug in das beschädigte Modul klettern, das derzeit hermetisch vom Rest der Station abgeschottet ist.

Die Entscheidung über das Schicksal der Mir-Station und einen eventuellen Abbruch der Mission soll aber erst in zwei Wochen fallen. So lange werde es dauern, sagte Raumfahrtdirektor Juri Koptew, bis alle notwendigen Informationen vorliegen. Während der zweiwöchigen Frist soll die Mir-Besatzung versuchen, die Station zu reparieren. Ein Raumtransporter mit Ersatzteilen könne aber frühestens in elf Tagen starten, hieß es gestern.

Wie ernsthaft die Energiekrise auf der Orbitalstation tatsächlich ist, offenbarte sich gestern an einem kleinen Detail. Der deutsche Astronaut Reinhold Ewald, im Februar selbst drei Wochen Gast auf der Mir, durfte seinen Aufmunterungsgruß nicht direkt an die Astronauten übermitteln, um Energiereserven zu schonen. Seine Botschaft – „Ich denke an euch, ich halte zu euch, ich bin mit euch“ – ging statt dessen an die Adresse der Ehefrauen der beiden russischen Kosmonauten. Immerhin konnte die Crew die Energieversorgung inzwischen auf 70 Prozent erhöhen.

Während die amerikanische Raumfahrtbehörde Nasa am Mittwoch direkt nach dem Unfall eilig eine Pressekonferenz organisierte, herrschte in Rußland noch Funkstille. Erst nach zwei Stunden meldete sich die russische Raumfahrtbehörde mit dem coolen Spruch: „Wir haben die Lage stabilisiert“, so Wiktor Blagow, Vizedirektor der russischen Raumfahrtkontrolle. Das steigert nicht gerade das Vertrauen der Amerikaner. „Feuer und Druckverlust sind die beiden gefährlichsten Dinge, die in einer Raumstation passieren können – und wir hatten beides“, kritisierte US-Astronaut Jerry Linenger, der vor Foale in der Station gearbeitet hatte. Erst im Februar war es auf der Mir zu einem Unfall gekommen, als ein Feuer in der Sauerstoffanlage ausbrach. Linenger brachte damit das steigende Mißtrauen gegen die Orbitalstation auf den Punkt. Denn eigentlich war die Mir nur für fünf Jahre im All konstruiert worden – nun kreist sie schon seit elf Jahren um die Erde.

James Sensenbrenner, Vorsitzender des Wissenschaftsausschusses im US-Repräsentantenhaus, forderte die Nasa auf, erst dann wieder Amerikaner zur Station zu schicken, wenn die Mir wirklich sicher sei. „Seit Februar gab es schon zehn ernsthafte Zwischenfälle“, schimpfte Sensenbrenner, „wir müssen uns entscheiden, ob die Wissenschaft, die wir da oben treiben, es wirklich wert ist, dafür das Leben von Amerikanern zu riskieren.“

Schon vor diesem Unglück hatte Sensenbrenner einen entsprechenden Antrag vorbereitet. Die russische Weltraumbehörde war bis zu dem Unglück der Ansicht, die Mir könne noch bis 1999 sicher betrieben werden. Andere US-Experten spotten, die Russen hätten mit der Mir zwar eine Antiquität im All, aber im Gegensatz zu den USA wenigstens überhaupt noch eine Station auf der Umlaufbahn. Auch Nasa-Projektleiter Frank Culbertson verteidigt das Mir-Projekt: Der Unfall hänge nicht mit dem Alter zusammen, „er hätte auch am ersten Tag passieren können“. Präsident Bill Clinton hielt sich noch zurück, äußerte lediglich seine Sorge um das Wohl der Besatzung. Schließlich ist die Mir eines der großen Symbole für die Entspannung zwischen Ost und West.

Ein Großteil der Forschung der USA ist wohl zerstört. Sie befand sich in dem getroffenen Spektr- Modul.

Als der US-Astronaut Foale vor Monaten an Bord der Mir ging, verglich er seine Mission mit der Fahrt „in einem Gebrauchtwagen“. Nun wird es wohl doch etwas ungemütlicher: Im beschädigten Modul befinden sich nämlich auch das Bett und die Klamotten des Amerikaners.

Nach dem kosmischen Verkehrsunfall hat Foale jetzt erst mal eine neue Zahnbürste von der Bodenstation bestellt. Matthias Urbach