Zu 0,00002 Prozent Zufall

■ Viele Untersuchungen, manche Erkenntnisse, keine Beweise

Das Atomkraftwerk Krümmel, seit 1983 im schleswig-holsteinischen Geesthacht an der Unterelbe am Netz, wird von den Energieversorgern PreussenElektra (Preag) und den Hamburgischen Electricitätswerken (HEW) betrieben. Wegen der gehäuften Leukämieerkrankungen in der Elbmarsch, mehrfacher Rißbildungen im Rohrleitungssystem, Stillständen sowie erhöhter Radioaktivitätsmessungen ungeklärter Herkunft im Umfeld steht das AKW seit langem im Verdacht, gesundheitsgefährdend zu sein. Seit 1990 sind in einem Radius von fünf Kilometern um das AKW neun Kinder unter 15 Jahren sowie ein 21jähriger an Leukämie erkrankt. Eine weitere schwere Bluterkrankung (Anämie) wurde bereits 1989 bei einem Kleinkind diagnostiziert.

Nach dem bundesweiten Durchschnitt aber, so das Bremer Institut für Präventionsforschung und Sozialmedizin (BIPS), wären im selben Zeitraum in der Fünf-Kilometer-Umgebung lediglich 1,5 kindliche Leukämiefälle zu erwarten gewesen. „Die beobachtete Häufung (Cluster) ist bezüglich ihrer räumlichen und zeitlichen Dimension weltweit einmalig“, urteilt das BIPS. Der „enge Bezug“zum AKW in der Elbmarsch sei „besonders auffällig“. Die statistische Wahrscheinlichkeit, daß es sich um einen Zufall handele, betrage weniger als 0,00002 Prozent.

Wegen der alarmierenden Krankheitszahlen beauftragte das schleswig-holsteinische Umweltministerium Anfang der 90er Jahre das BIPS mit einer breit angelegten epidemiologischen Untersuchung. Ziel war die vollständige Erhebung aller Fälle von Leukämien (Erwachsene und Kinder) in den drei an die Elbmarsch angrenzenden Landkreisen Herzogtum Lauenburg, Lüneburg und Landkreis Harburg für die Jahre 1984 bis 1993. Hauptergebnis der 1994 abgeschlossenen Studie war eine um etwa 30 Prozent erhöhte Leukämierate in allen Altersgruppen in der 0-5-Kilometer-Region um den Siedewasserreaktor.

1996 beauftragten Niedersachsen und Schleswig-Holstein BIPS zudem mit einer Fall-Kontroll-Studie in den Elbmarschen, den Kreisen Harburg und Lüneburg, Lauenburg und Stormarn (Verdachtsursache: Krümmel) sowie Pinneberg und Steinburg (Verdachtsursache: Pestizide). Diese soll bis zur Jahrtausendwende abgeschlossen sein.

Nach dem Bundesatomgesetz ist das Abschalten eines Reaktors nur möglich, wenn der direkte Zusammenhang zwischen dem AKW-Betrieb und den Erkrankungen nachgewiesen ist. Die Beweislast für bereits genehmigte Anlagen – wie Krümmel – liegt bei den AKW-Gegnern. Deshalb hat das Energieministerium Ende dieser Woche zwei weitere Studien in Auftrag gegeben. Eine strahlenbiologische Untersuchung soll herausfinden, ob niedrigere Strahlendosen als die bislang angenommenen Leukämien verursachen können. Der Verdacht, daß schon eine geringere Strahlung krebserregend sei, ist aufgrund von Zweifeln an der Übertragbarkeit der historischen Daten (die Berechnungen basieren weitestgehend auf Untersuchungen an Hiroshima-Opfern) auf deutsche Verhältnisse entstanden.

Eine anlagentechnische Studie geht möglichem bislang unbemerkten Schadstoffausstoß nach. Die Ergebnisse sollen in einem halben Jahr vorliegen. Ende Juli bereits soll nach Angaben von Voigt ein Gutachten abgeschlossen sein, das die ungeklärte Herkunft der erhöhten Cäsium-137- und Kobalt-60-Werte im Regenwasser des Örtchens Grünhof neben dem AKW hoffentlich ermitteln wird. hh