Steh auf, mein Freund, und wandle umher

■ Entgegen der landläufigen Meinung, in Betrieben wird häufig krankgefeiert, melden sich immer weniger Arbeitnehmer krank. Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes Hauptgrund

Wenn morgens die Nase tropft und der Hals kratzt, die Augen tränen und das Quecksilber auf dem Fieberthermometer in die Höhe schießt, dann bleiben immer mehr Menschen nicht einfach für einige Tage im Bett und kurieren sich aus, sondern gehen wie gewohnt zur Arbeit. Und nicht nur bei grippalen Infekten oder nach einer verdorbenen Pizza. Auch bei schwereren Erkrankungen wie Bandscheibenleiden oder Magenschleimhautentzündungen ist die Tendenz steigend, möglichst nicht zu Hause zu bleiben, sondern zu arbeiten. Business as usual, wenn es irgendwie geht.

ArbeitnehmerInnen melden sich immer weniger krank: Fehlzeiten und Krankenstände in den Betrieben gehen nach unten. Nach Angaben der Allgemeinen Ortskrankenkasse (AOK) waren im ersten Quartal 1997 nur 5,91 Prozent der Pflichtversicherten aus Krankheitsgründen arbeitsunfähig, im gleichen Zeitraum 1996 waren es noch 6,21 Prozent. In Berlin sind insgesamt 860.000 Menschen bei der AOK versichert. Aufschlußreicher ist die Statistik der Betriebskrankenkassen, denn diese versichern Arbeitnehmerinnen aus den unterschiedlichsten Branchen.

So sank im April 1997 der Krankenstand im Vergleich zum März bundesweit von 5,2 auf 4,8 Prozent. „Spitzenreiter“ waren dabei das Baugewerbe (7,19 Prozent) und Verwaltungsbetriebe (7,03 Prozent). Am wenigsten „offiziell“ krank waren ArbeitnehmerInnen aus der Leder-, Textil- und Bekleidungsbranche (2,94 Prozent).

Nach Hochrechnungen des Nürnberger Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung gingen die Fehlzeiten bundesweit im ersten Quartal 1997 um 27 Prozent oder 200 Millionen Arbeitsstunden im Vergleich zum Vorjahr zurück. Das Institut geht davon aus, daß der Krankenstand im Gesamtjahresdurchschnitt auf etwa acht bis neun Fehltage zurückgeht. Über die möglichen Gründe für diese Entwicklung sind sich Gewerkschaften, ArbeitgeberInnen und Krankenkassen weitgehend einig. Daß es sich dabei jedoch um eine längerfristige Tendenz handeln könnte, wird zurückhaltend diskutiert.

Denn wirklich zählbare Ergebnisse stehen noch aus. Die stellvertretende ÖTV-Vorsitzende, Susanne Stumpenhusen, geht davon aus, daß die ansteigende Arbeitslosigkeit und die damit grassierende Angst um den Arbeitsplatz die ArbeitnehmerInnen schneller aus dem Bett oder gar nicht erst ins Bett treibt.

Auch das im vergangenen Oktober verabschiedete Lohnfortzahlungsgesetz im Krankheitsfall, auch wenn es in vielen Betrieben bisher gar nicht angewandt wird, verstärke diesen Trend. Der Arbeitszeitforscher Hans Kohler bezeichnet diese Entwicklung als „zweischneidig“: Die Unternehmen könnten zwar durch den niedrigeren Krankenstand ihre Produktivität steigern, zugleich sinke aber die Bereitschaft, neue ArbeitnehmerInnen einzustellen. Die 200 Millionen mehr geleisteten Arbeitsstunden machten rein rechnerisch 450.000 Stellen aus: „Die Arbeitgeber sparen durch den Rückgang der Fehlzeiten Milliarden ein.“

Die Angst vor dem Verlust der Arbeitsplätze tragen die Kranken auch an ihre Ärzte weiter. So hat der Neuköllner Allgemeinarzt Victor Kettler in den vergangenen Monaten in seiner Praxis immer wieder einen Satz – sogar von Schwerkranken – gehört: „Nur höchstens zwei, drei Tage können Sie mich krankschreiben, dann muß ich auf jeden Fall wieder arbeiten.“ Das sei jedoch, so der Arzt, häufig ein Teufelskreis, denn: „Wenn man sich nicht richtig auskuriert, ist man ausgepowerter und fehlt im Endeffekt häufiger.“ Julia Naumann