Gespräch als Leistungsturbo

Um den betrieblichen Krankenstand zu senken, setzt Siemens auf „Rückkehrgespräche“. Das „Top in Form“-Programm bringt müde Mitarbeiter auf Trab  ■ Von Julia Naumann

Nach einer Krankheit, egal ob grippaler Effekt oder schwerer Knochenbruch, erwartet den Siemens-Mitarbeiter immer das gleiche Ritual: Vor der Arbeitsaufnahme gibt es ein sogenanntes „Rückkehrgespräch“ zwischen dem unmittelbaren Vorgesetzten und dem Mitarbeiter. In vertrauter Atmosphäre soll dort über die Krankheit, den versäumten und aktuellen Arbeitsprozeß und andere Interna der Abteilung geredet werden. Ganz „selbstverständlich“ und nicht „moralisierend“ soll das Gespräch sein, betont Katharina Dietrichs, Siemens-Koordinatorin für betriebliche Gesundheitssicherung.

Auch bei anderen Abwesenheiten – Dienstreisen, Urlaub – wird mittlerweile „rück“-getalkt. „Die Mitarbeiter fühlen sich dadurch wertgeschätzt, sind motivierter und identifizieren sich mehr mit ihrem Betrieb“, glaubt Dietrichs. Sie hält diese Gespräche für eine gewisse „Fürsorgepflicht“. Denn es sei völlig frustrierend, nach einer Krankheit von den MitarbeiterInnen oder Chefs gar nicht wahrgenommen zu werden.

Für die Siemens-Geschäftleitung hat der „Rückkehr-Motivationsschub“ der MitarbeiterInnen mehrere Vorteile: Die Kommunikationsstrukturen in den einzelnen Abteilungen verbessern sich und dadurch steigt die Leistung. Effektivere Leistung und eine hohe Motivation bedeute, so Dietrichs, einen niedrigeren Krankenstand. Und den möchte Siemens, der allein in Berlin 19.000 Menschen beschäftigt, unbedingt weiter senken. Allein die Entgeltzahlung im Krankheitsfall für das Geschäftsjahr 1995/96 habe 328 Millionen Mark gekostet, rechnet Siemens- Sprecher Enzio von Kühlmann- Stumm vor.

Durch ein ausgeklügeltes Programm mit dem schwungvollen Namen „Top in Form“ werden die Siemens-Höheren, vom Werkstattleiter bis zum Führungsmanager, unterrichtet, wie die MitarbeiterInnen mehr „Ausdauer, Mut und die Bereitschaft, sich vorbehaltlos für den Kunden und das Unternehmen einzusetzen“ erreichen können. Und das seit zirka einem Jahr laufende Programm habe, so Kühlmann-Stumm, bereits Erfolge gezeigt: Der Krankenstand fiel von 4,4 Prozent im Jahr 1996 auf 4,1 Prozent 1997. Ziel ist es, das weniger als 3,5 Prozent der MitarbeiterInnen krankgeschrieben sind.

Nicht nur bei Siemens, sondern insgesamt in Berlin, ist der Krankenstand schon immer höher als im Bundesgebiet gewesen – ungefähr ein bis anderthalb Prozent: „Das war schon zu Kaisers Zeiten so“, sagt Klaus Hubert Fugger, Sprecher der Vereinigung der Unternehmensverbände. Das liege an der industriell geprägten Struktur der Stadt: „Je größer eine Betriebseinheit ist, desto größer ist auch der Krankenstand.“ Durch große Abteilungen nehme die soziale Kontrolle ab. Wer weiß denn schon genau, ob KollegIn X oder Y am Fließband nebenan ernsthaft krank ist oder nur „krankfeiert“? Auch der hohe Anteil an Singlehaushalten sei schuld: In einer Familie könne man sich viel schneller auskurieren. So setzt Siemens auf Teamarbeit und kleinere Betriebseinheiten, um eine bessere soziale Transparenz zu erhalten.

Und weil der Krankenstand in Berlin – die Schätzungen liegen bei 70.000 bis 80.000 Menschen täglich – 30 Prozent über dem Bundesdurchschnitt liegt, hat auch der Medizinische Dienst der Krankenversicherungen (MDKB) besonders viel zu tun. Der Dienst wird von Arbeitgebern und Krankenkassen angefordert, um Krankmeldungen auf ihre Glaubwürdigkeit hin zu checken. „Die Arbeitgeber lassen rund jede 100. Krankmeldung überprüfen“, weiß Klaus Meyer-Callé vom MDKB. Dabei würden besonders kleine Firmen den Medizinischen Dienst nutzen: Dienstleistungsbetriebe, Putz- und Zeitarbeitsfirmen: „Die Sklavenhändler lassen vorladen“, sagt Meyer-Callé. Geprüft werde aber nur, wenn die Diagnose nicht plausibel erscheine: „Beim Armbruch gehen wir natürlich nicht vor, bei Magenbeschwerden schon eher.“ „Noch mehr Aufwind haben private Detekteien. So gibt der Bundesverband Deutscher Detektive, daß 15 bis 20 Prozent aller Aufträge der Observierung häufig fehlender MitarbeiterInnen gelten.

Doch auch wenn man krank ist, muß nicht unbedingt den ganzen Tag das Bett gehütet werden. So ist der Besuch einer Kneipe oder einer Disko erlaubt. Der Arbeitgeber muß für eine fristlose Kündigung erst nachweisen, daß der Besuch die Genesung gefährdet (Az.: 4 Ca 6044/95). Und das Lebensmitteleinkaufen ist sowieso erlaubt. Julia Naumann