Sind Lesben feministisch oder einfach schwul?

■ Jutta Oesterle-Schwerin, Geschäftsführerin der Partei "Die Frauen", streitet mit Klaudia Brunst, Chefredakteurin der taz, über mögliche Bündnispartner für Lesben

Frau Oesterle-Schwerin, ist Lesbischsein politisch?

Oesterle-Schwerin: Lesben verweigern es, sich Männern unterzuordnen. Mindestens im privaten Bereich. Dadurch stellen sie gesellschaftliche Gepflogenheiten in Frage, die felsenfest zu sein scheinen. Deswegen ist Lesbischsein auch dann politisch, wenn es zunächst nicht bewußt so gemeint ist.

Brunst: Sie verstehen sich als lesbische Feministin?

Oesterle-Schwerin: Ja.

Brunst: Viele Lesben, die in der feministischen Bewegung arbeiten, sind als Lesben praktisch nicht mehr kenntlich. Sie sind da eine rühmliche Ausnahme, aber ich glaube, daß eine starke Lesbenbewegung nie hat entstehen können, weil es die Frauenbewegung gab.

Oesterle-Schwerin: Das Gegenteil ist wahr. Die Lesbenbewegung wäre in der Bundesrepublik ohne die Frauenbewegung nie entstanden. Viele sind erst dort Lesben geworden oder haben gewagt, es offen zu sein.

Brunst: So eine Art Super-coming-out-Gruppe?

Oesterle-Schwerin: Ich weiß nicht, ob das das passende Vokabular ist. Jedenfalls haben viele Frauen im Frauenzentrum Frauen getroffen und eine Atmosphäre erlebt, die es ihnen ermöglicht hat, lesbisch zu werden oder das überhaupt zu entdecken. Die Chance hätten sie sonst nicht gehabt.

Brunst: Und wo sind die Bewegungslesben jetzt? Viele Institutionen, die in ihrem Namen das Wort feministisch führen, wurden von Lesben gegründet und aufrechterhalten. Diese Frauen haben offensichtlich gefehlt beim Aufbau einer Lesbenbewegung. Und die sagen dann heute: „Ich lebe nicht offen, denn dann kriegen wir keine Fördergelder, dann haben die Hetero-Frauen Angst, zu uns zu kommen.“ So etwas halte ich für extrem kontraproduktiv.

Oesterle-Schwerin: Ja, das ist es auch. Wenn Lesben sich verstecken, ist das überall kontraproduktiv. Aber Teile der Frauenbewegung sind eben ebenso anpaßlerisch geworden wie andere Teile der Gesellschaft auch. Frau darf ja auch nicht mehr sozialistisch oder pazifistisch sein, wenn sie was bekommen oder werden will. Ich halte diese Anpassung für falsch und finde es verheerend, wenn Lesben in Frauenprojekten arbeiten, in denen sie nicht offen auftreten dürfen.

Brunst: Aber sie tun es doch.

Oesterle-Schwerin: Okay. Was schlagen Sie vor?

Brunst: Nur in Zusammenhängen zu arbeiten, die voraussetzen, daß man aus dem Schrank rauskommt. Das ist für mich die Homobewegung von Schwulen und Lesben und eben nicht die Frauenbewegung.

Oesterle-Schwerin: Ja, aber Lesben haben ja nicht nur Probleme, weil sie Lesben sind, sondern weil sie Frauen sind. Und der Unterschied zwischen Lesben und Schwulen ist so groß wie der zwischen Männern und Frauen. Deswegen ist es nur bedingt sinnvoll, sich schwulen Männern politisch anzuschließen. Viele Lesben machen das aber, weil sie es sich nicht zutrauen, selber was auf die Beine zu stellen, ebenso wie viele Heteras nur deswegen Anhängsel von Männern werden, weil sie sich nicht zutrauen, ohne sie zu leben. Aber die Lesben werden dann von den Schwulen untergebuttert.

Brunst: Schwule haben es leichter, denn sie müssen sich nicht zwischen Patriarchats- und Schwulenbewegung entscheiden. Wir entscheiden uns permanent: Wo gehörst du hin? Arbeitest du feministisch, oder arbeitest du etwa mit Jungs zusammen? So kommt es zur Marginalisierung der Lesbenbewegung.

Oesterle-Schwerin: Nein. Das Problem besteht darin, daß Lesben in der Gesellschaft viel stärker diskriminiert sind als Schwule. Das hat natürlich politische Gründe, weil Schwule nicht die Gesellschaftsverhältnisse in Frage stellen. Lesben tun das. Schwule verweigern sich nicht dem Patriarchat. Sie leben nur ein bißchen anders und werden als Männer akzeptiert.

Und was ist mit dem Paragraphen 175, der sich ausschließlich auf Schwule bezog...?

Brunst: Und was ist mit dem „Schwulenklatschen“?

Oesterle-Schwerin: Fakt ist doch, daß die Repression gegen Mädchen, biographisch gesehen, viel früher anfängt. Mädchen werden lange vor ihrer Entscheidung, lesbisch oder nicht lesbisch zu sein, an ihrer persönlichen Entfaltung gehindert und häufig sexualisierter Gewalt ausgesetzt.

Wo sind Lesben denn Gewalt ausgesetzt, die Frauen nicht sowieso betrifft?

Oesterle-Schwerin: Da, wo Lesben in der Öffentlichkeit als Lesben auftreten, sind sie natürlich genau den gleichen Gefahren ausgesetzt wie Schwule.

Brunst: Aber das gibt Ihnen nicht zu denken. Ich habe mehr mit dem Schwulen gemeinsam, der Angst hat, „geklatscht“ zu werden, weil er etwas femininer ist und die Gesellschaft das nicht toleriert, als mit der Heterofrau, die von ihrem Ehemann geschlagen wird. Sie haben einmal gesagt, für Sie sei die Gleichstellungspolitik kleinteilige Lobbypolitik. Ist es denn damit getan, das Patriarchatsproblem zu lösen?

Oesterle-Schwerin: Ja. Wenn die Herrschaft von Männern über Frauen beendet ist, dann gibt es auch keine Zwangsheterosexualität mehr. Und dann wird es auch Schwulen bessergehen.

Hoffen Sie, das noch zu erleben?

Oesterle-Schwerin: Wir sollten nicht nur für die Dinge kämpfen, die wir zu erleben hoffen. Ich trage die Fackel immer weiter. Wenn wir uns als Lesbe für kleinkarierte Lobbypolitik einsetzen, dann verlieren wir die Utopie.

Brunst: Nichts gegen das Ende des Patriarchats. Aber bis dahin würde es mir schon helfen, als Homosexuelle die gleichen gesellschaftlichen Rechte zu haben. Ihre Argumentation scheint mir sehr im Dienst der großen feministischen Sache zu stehen ...

Oesterle-Schwerin: Ohne Utopie werden wir keinen Schritt vorankommen, auch keinen kleinen.

Brunst: ...und in den Frauenzentren sitzen derweil die Lesben und erklären den Heterofrauen, wie man vernünftig verhütet.

Oesterle-Schwerin: Das ist genauso wenig sinnvoll, wie wenn Lesben sich in der Aids-Hilfe engagieren oder sich rote Schleifchen an die Jacke stecken. Schließlich haben wir das geringste Aidsrisiko.

Brunst: Aber ziehen Sie mal alle Lesben aus Frauenprojekten ab, dann fallen die Projekte zusammen ...

Oesterle-Schwerin: Da haben Sie recht.

Brunst: ...und sie nennen sich trotzdem Frauenradio, Frauenzentrum. Sie sind ja auch die Bundesgeschäftsführerin einer Frauenpartei ...

Oesterle-Schwerin: ...einer feministischen Partei!

Brunst: ...die „Die Frauen“ heißt.

Oesterle-Schwerin: Aber die Lösung besteht nicht darin, Lesben aus Frauenprojekten abzuziehen und der Schwulenbewegung zuzuführen ...

Brunst: ...Homobewegung ...

Oesterle-Schwerin: ...sondern versteckt lebende Lesben in der Frauenbewegung dabei zu unterstützen, daß sie aus ihrem Schrank rauskommen.

Brunst: Wie viele Lesben sitzen im Vorstand Ihrer Partei?

Oesterle-Schwerin: Zwei Lesben, zwei Heteras, und von den drei anderen weiß ich es nicht.

Brunst: Warum heißt die Partei „Die Frauen“?

Oesterle-Schwerin: Weil wir die Interessen von Frauen vertreten. Denn alle sind der Gewalt von Männern ausgesetzt, völlig unabhängig davon, ob sie lesbisch sind oder nicht.

Brunst: Sie haben selbst mal geschrieben, daß die Frauenbewegung homophob ist.

Oesterle-Schwerin: Ich habe geschrieben, viele heterosexuelle Feministinnen sind homophob. Aber ich empfinde die Frauenbewegung nicht als homophob.

Klaudia, was haben Lesben davon, wenn sie sich der Schwulenbewegung anschließen?

Brunst: Ich propagiere hier keinen Anschluß, ich kämpfe für eine eigenständige Lesbenbewegung. Erst wenn die stark genug ist, können wir uns gleichberechtigt Bündnispartner suchen. Dann sind wir frei, mit der Frauenbewegung zu kooperieren, wo wir es sinnvoll finden. Und mit der Schwulenbewegung.

Aber was bringt dir die Schwulenbewegung?

Brunst: Mir bringt erst mal die Lesbenbewegung etwas. Gay pride zum Beispiel. Ich finde es wichtig, stolz auf meine lesbische Identität sein zu können.

Gibt es denn die Lesbenbewegung überhaupt?

Brunst: Es gibt eine viel zu kleine Lesbenbewegung, die die zweifelhafte Wahl hat, eine Abteilung unter dem Dach des Feminismus oder als Bindestrich-Bewegung ein Teil der Schwulenbewegung zu sein. Ich entscheide mich da lieber für die Utopie einer starken gemeinsamen Homobewegung, weil mir das Selbstbewußtsein der schwulen Tunten in ihren langen Kleidern gefällt. Die verweigern die konventionelle Geschlechterrolle genauso wie ich. Und weil mir die Schwulen in der Gleichstellungsfrage im Moment die besseren Bündnispartner zu sein scheinen.

Oesterle-Schwerin: Ich empfinde sie nicht stärker als Bündnispartner als andere diskriminierte Gruppen. Gemeinsam haben wir mit ihnen nur die Gleichgeschlechtlichkeit. Ich lasse mich aber nicht ausschließlich über meine Sexualität definieren. Und kulturell trennen uns Welten.

Brunst: Aber der etwas andere Sex ist immerhin der Anfang von allem.

Was hat denn die Frauenbewegung den Lesben gebracht?

Oesterle-Schwerin: Räume. Ich bin im Frauenzentrum überhaupt erst auf die Idee gekommen, daß es auch andere Lebensformen gibt.

Sie waren erst Feministin und dann Lesbe?

Oesterle-Schwerin: Ja. Frau Brunst meint, die Lesben fehlen den Schwulenprojekten ...

Brunst:...Homoprojekten...

Oesterle-Schwerin:...weil sie in die Frauenprojekte gehen. Ich meine, viele Lesben gehen dort nicht hin, weil sie sich anders identifizieren als Schwule. Also, ich wäre nie in ein Schwulenprojekt gegangen ...

Brunst: Ich sicher auch nicht. Ich spreche ja von gemischten Projekten. Sie sagen immer Schwulenprojekt ...

Oesterle-Schwerin: ...gut, sagen wir Homosexuellenprojekt. Schwule dominieren aber in allen Projekten. Ein gemischtes Projekt, in dem Lesben dominieren, kenne ich nicht. Gemeinsam sind uns ein paar rechtliche Benachteiligungen. Aber warum gibt es denn kein homosexuelles Gesundheitszentrum? Weil wir ganz unterschiedliche Probleme haben. Es gibt 2.000 Aids-Neuerkrankungen im Jahr und 40.000 Neuerkrankungen an Brustkrebs. Warum sollten wir uns für höhere Mittel bei der Aidsbekämpfung einsetzen, wenn es keine Mittel für Therapieplätze für mißhandelte Frauen gibt? Sicher, Schwule stehen an der schwächsten Stelle des herrschenden Lagers. Aber sie gehören noch dazu. Moderation: Ulrike Fokken