Steine für eine neue Familienbande

In Köln entsteht eine schwul-lesbische Wohnsiedlung. Erstes Resümee: Anders leben will gelernt sein  ■ Von Holger Wicht

Landluft mitten in Köln: Ein Lastwagen nach dem anderen bringt Kuhdung für die Grünfläche vor dem Neubau im ehemaligen Industriegebiet. „Eine Gegend mit viel Offkultur, die gerade so richtig schön im Kommen ist“, schwärmt Hans-Jürgen Esch. Er steht vor dem gewaltigen Bug des schifförmigen Gebäudekomplexes im Stadtteil Ehrenfeld und erläutert sein Projekt: „Hier das Restaurant, dort vielleicht ein Café oder ein Buchladen.“ Zudem sollen auf dem Dach, das demnächst begrünt wird, drei Penthäuser errichtet werden.

Der Grundstein wurde vor zwei Jahren für eine „Utopie“ (Esch) gelegt. Unter dem Titel „Anders leben in Ehrenfeld“ sollte auf 1.800 Quadratmetern eine schwul-lesbisch geprägte Gemeinschaft entstehen, wo Bewohnerinnen und Bewohner verschiedener Generationen einander unterstützen. Hans-Jürgen Esch mußte für ein Millionenprojekt mobilisieren. Doch mit den etwa 40 Menschen, die bereits dort leben, ist das Projekt real geworden.

Esch, ein schmaler, ernster Mittvierziger, den man gut und gerne zehn Jahre jünger schätzt, berichtet von seinen Visionen nun mit einem matten Lächeln: „Im Moment sind alle nebeneinanderher mit sich selbst beschäftigt. Einige sind damit beschäftigt, die Kosten zu drücken – zur Not wegen Mikrokratzern an der Türklinke.“

Resigniert hat Esch trotzdem nicht: „Hier wohnen auch einige Leute, zu denen ich ein sehr gutes Verhältnis habe.“ Nein, gescheitert sei das Projekt nicht, Streit komme auch in Familien vor, und seine Rolle als Geschäftsmann bleibe natürlich nicht ohne Folgen für das Private. „Eine Gemeinschaft muß langsam entstehen – wir haben nun einmal keine gewachsenen Familienbande.“

Gegenwärtig werden in dem Neubau, der einen Altbau integriert, weitere Wohnungen, Gewerbeflächen und Gemeinschaftsräume ausgebaut. 70 Menschen sollen dereinst in diesem „Lebensraum für Künstler, Kreative und Freiberufler“ wohnen, in dem mit gemeinschaftlich nutzbaren Räumen wie einem Café endlich auch „Familiensinn“ Einzug halten soll.

Den heimlichen Vorwurf aus der Szene, ein schwul-lesbisches Ghetto zu errichten, weist Hans- Jürgen Esch zurück: „Die sexuelle Orientierung soll nicht im Vordergrund stehen. Hier sind auch alle anderen willkommen, die ein etwas anderes Lebenskonzept verfolgen als Familie mit schreienden Kindern.“ Dieses Konzept scheint aufzugehen: Zur Zeit reicht das Spektrum der Bewohner vom Heteropaar über eine alleinerziehende Lesbe bis zum schwulen Freiberufler. Die Interessenten kommen sowohl aus dem Homomilieu als auch aus der Heterowelt zu Esch. Die langjährigen Mieter der Wohnungen im Altbau ließen sich gerne integrieren.

Tatsächlich riecht hier nichts nach Ghetto, eher hat man die Spur der Vermittlung zwischen verschiedenen Identitäten aufgenommen. Für die „etwas anderen Lebenskonzepte“ hat Esch bei der Planung den Schwerpunkt auf Flexibilität gelegt. Die Loftwohnungen können die Käufer oder Mieter vor dem Einzug nach Bedarf und Geschmack umbauen lassen. Ein abgetrenntes Büro, ein Tonstudio, ein Atelier an der Fensterfront? Kein Problem.

Zum Beispiel Dieter Serve, Grafikdesigner. Auch für ihn ist die „schöne Idee im Moment ein bißchen zerschlagen“. Aber auch er glaubt, daß eine Gemeinschaft mit der Zeit wachsen könne. Vorerst freut er sich an seiner neuen Wohnung: Allein auf 145 Quadratmetern hat er seine optimale Wohn- und Arbeitsstätte maßschneidern lassen können.

Geplant war auch eine Wohngemeinschaft für ältere Schwule. „Wir wollen kein schwules Altenheim“, erklärt Michael Schmidt, Sprecher des Vereins „Gay & Gray“. Vielmehr gehe es um „generationsübergreifende Wohnmodelle, der Dreißigjährige mit dem Siebzigjährigen – das ist der Trend schlechthin!“ In Ehrenfeld hatte „Gay & Gray“ schon eine 200- Quadratmeter-Wohnung angemietet. An Interessenten mangelte es nicht: „Wir hätten die Hütte dreimal vollgekriegt“, sagt Schmidt. Doch das Projekt platzte. Der Investor Jürgen Wolf, der die Wohnung von Esch erworben hatte, forderte 20 Mark Miete pro Quadratmeter, während die Mieten im „Esch-Projekt“ sonst zwischen 12 und 17 Mark liegen. Nach weiteren Konflikten mit Wolf nahm „Gay & Grey“ Abstand von Ehrenfeld – sehr zum Bedauern von Esch, der die Idee zur Alten-WG hatte.

Günstige Mieten und Kaufpreise sind Hans-Jürgen Esch wichtig. In Ehrenfeld hat sich kein profitgieriger Baulöwe ins Risiko gestürzt, sondern ein anfangs weitgehend fachfremder Idealist. Die finanzielle Möglichkeit zu seinem Projekt hat er sich als Entwickler von Mikroelektronik geschaffen, ohne je einen Hochschulabschluß erworben zu haben. Lieber hat er sein „Hobby Problemlösungen“ mal zu diesem, mal zu jenem Beruf gemacht. Als sein Freund an den Folgen von Aids verstorben war, hat er ein Buch geschrieben: „Aids – Du hast Chancen. Nötige Denkanstöße nicht nur für Betroffene“. Nun hat sich Esch, der Interessenten in Jeans und T-Shirt empfängt, in seiner Rolle als Investor mit nörgeligen Klienten, schlampigen Handwerkern und rigiden Geschäftspartnern auseinanderzusetzen. Nach seinem Motto „Leben ist Lernen“ verbucht Esch solche Widrigkeiten als Erfahrungen, die nur zu Gelassenheit führen können: „Wir leben nun mal in einer real existierenden Welt, in der Bauunternehmer mit Mafiamethoden ums Überleben kämpfen.“