■ Vergleich von Schülerleistungen: Deutsche Schulen fördern Landsknechtsmentalität, japanische Kreativität
: Söldnerheere – Kulturgemeinschaften

Ausgerechnet eine knochentrockene internationale Studie über den Matheunterricht ist dabei, ein Knaller zu werden, der die zu Rhetorik verkommene Bildungspolitik aufschreckt und auf neue Wege bringt. Die Rede ist von TIMSS, Third International Math and Science Study. 500.000 Kinder aus 44 Ländern wurden in Mathe und Naturwissenschaften getestet. Die Studie verweist deutsche Schüler, besser: das deutsche Schulsystem, international in die zweite Liga. Kinder aus ostasiatischen Ländern sind den deutschen Achtklässlern um mehrere Schuljahre voraus. Schluß mit Weltmeister Germany?

Die Studie zeigt, welch müde Rituale deutscher Schulmeister für die schlechten Ergebnisse verantwortlich sind. In drei Ländern wurde zusätzlich zu den Tests der Unterricht ausführlich auf Video dokumentiert. Viele hundert Stunden wurden in Japan, Deutschland und in den USA aufgenommen. Derzeit wird diese einmalige Ethnologie im Klassenzimmer am Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung ausgewertet. Die Videostudien zeigen, wie in Deutschland Dienst nach Vorschrift bereits in der Schule beginnt. Und wenn Vorschriften fehlen, ist die Ratlosigkeit groß. Statt zu denken, lernen die Schüler Verfahren auszuführen, die sie oftmals nicht verstanden haben. „Deutsche Achtklässler haben nicht einmal ein elementares Verständnis von einem naturwissenschaftlichen Experiment“, sagt der Direktor des Max-Planck-Instuts für Bildungsforschung, Jürgen Baumert, „sie wissen nicht, daß man eine Variable ändert.“ Im deutschen Matheunterricht regiert der Glaube an den einen Weg und an die eine Lösung, die der Lehrer natürlich kennt. Die Schüler sollen ihm folgen. Das alles muß außerdem schnell gehen.

In Japan fordert der Lehrer die Schüler auf, findet viele Wege und experimentiert mit mehreren Lösungen. Dazu läßt er den Kindern viel Zeit. Wege, die nicht zum Ziel führen, gelten als ebenso interessant, wie erfolgreiche Lösungen. Mathematikunterricht an Schulen ist also keine scheinbar neutrale, kognitive Übung. Er ist ein mentales Initiationsritual. In ihm ist die Grammatik einer Kultur verschlüsselt. Nun sind auch Japans Schulen gewiß keine Außenstellen des Paradieses. Japan ist widersprüchlich. Und die Widersprüchlichkeit macht den Reiz und die Kraft dieser Kultur aus. Hierzulande sind nur die Schatten Japans bekannt, zum Beispiel Paukschulen am Nachmittag. Oftmals sitzen in Japan mehr als 40 Kinder in einer Klasse. Und dennoch ist der Unterricht individualisierter als der von deutschen Kleingruppen. Japan hat bis zur 10. Klasse eine radikale Gesamtschule, die nicht einmal innere Differenzierung nach Leistungsniveaus kennt. Daraus läßt sich aber nicht ableiten, daß es die Schulorganisation, also die Gesamtschule macht.

Die TIMSS-Studie killt Mythen. Nicht die Sonderung der Schüler nach „Begabung“ oder „Leistung“ in ein dreigliedriges System oder das gemeinsame Lernen in integrierten Gesamtschulen ist ausschlaggebend, es kommt auf die Kultur des Unterrichts an.

Typisch deutscher Matheunterricht läuft nach dem Schema: Erst Hausaufgabenkontrolle. Dann beginnt der Lehrer mit einem neuen Thema. Oft können die Schüler nur ahnen, was der Lehrer eigentlich meint. Aber sie bemühen sich mitzuspielen, „wenn sie nicht einschlafen“, schränkt Jürgen Baumert ein: „Der deutsche Matheunterricht“, faßt er zusammen, „ist wie ein Trichter. Er führt immer enger, bis die Lösung an der Tafel steht.“ Dann sollen die Schüler, was der Lehrer vorgemacht hat, wiederholen. Schließlich gibt es mehr des Gleichen als Hausaufgabe. Klingeln. Pause.

Mathematikunterricht in Japan überraschte die Forscher durch seine konstruktivistische Anlage. Er spielt sich in einem Feld von Alternativen und Möglichkeiten ab. Ein vorsichtiges „vielleicht“ wird zumeist mitgedacht. Das mahnt zur Genauigkeit. Diese Unterrichtskultur ist auf dem Hintergrund einer nicht monotheistisch denkenden Kultur zu verstehen. In Japan kann man sagen, ich bin erstens Buddhist, zweitens Schintoist, drittens Christ, viertens vielleicht liberal und fünftens etwas marxistisch. Wenn einer das in Deutschland sagt, wird man ihm antworten: Für solche Leute haben wir ganz bestimmte Häuser, Irrenhäuser. Bei uns kann man sich ja nicht mal vorstellen, zugleich evangelisch und katholisch zu sein.

Abendländisches Denken in den engen Schemata von „richtig und falsch“, „entweder – oder“, „wo ich stehe, da kannst du nicht sein“ hat unsere Kultur zu Weltmeistern der Industrieepoche qualifiziert. Und nun?

Worum es gehen wird, hat vor einigen Tagen Thomas Sattelberger, Chef der Personalentwicklung bei der Lufthansa, klar ausgesprochen: „Die Firmen stehen am Scheideweg zwischen Söldner- und Kulturgemeinschaften.“ Und das gilt nicht nur für Firmen, die lernen, daß ihnen der Schritt vom industriellen Gleichtakt in eine feingliedrigere und individuellere Zweite Moderne sonst nicht gelingen wird. Der Übergang von Söldner- zu Kulturgemeinschaften steht für die ganze Gesellschaft an, vor allem dort, wo sie sich bildet, in Schulen und Hochschulen.

Die in den Schulen und Fabriken der Industriegesellschaft lange eingeübte Söldnermentalität wird heute deren größtes Handikap. Der Philosoph Peter Sloterdijk hat für Schulen ein ähnliches Bild benutzt wie der Personalmanager: „Schüler verlassen Schulen wie Landsknechte eine aufgelöste Armee.“

Wie die Mentalität von Landsknechten in Schulen und die von Söldnern in den Betrieben überwinden? Ein Beispiel finden wir in Kanada, beim Durham Board of Education, deren Schulen im vergangenen Herbst als die besten der Welt ausgezeichnet wurden. Dabei waren Schulen in diesem Bezirk Ende der 80er Jahre noch in fast jeder Hinsicht Schlußlicht der kanadischen Provinz Ontario. Damals ging von Lehrern eine kleine Kulturrevolution aus. Lehrer machten sich zum Motto: „Niemand kann von anderen verlangen zu lernen, wenn er nicht selbst damit beginnt.“ Lernen ist bekanntlich das Gegenteil von belehrt werden. Lernen ist so etwas wie eine ansteckende Gesundheit. Man kann sie nicht einfordern, man kann sie nur weitertragen. Aus Lehrern wurden Lernende und eben dadurch bessere Lehrer.

Übrigens hat jetzt im kanadischen Ontario eine Royal Commission eine vielbändige Denkschrift zur Schulreform herausgebracht. Sie hat den bezeichnenden Titel: „For The Love of Learning“. Reinhard Kahl