Das Netz bleibt frei von Zensur

■ Das Oberste US-Gericht weist den Communications Decency Act fürs Internet als verfassungswidrig zurück

Washington (taz) – Das Oberste Bundesgericht der USA hat entschieden, den sogenannten Communications Decency Act als Einschränkung der verfassungsmäßig garantierten Meinungsfreiheit anzusehen und daher zurückzuweisen. „Es ist guter verfassungsmäßiger Brauch“, sagten die Richter, „davon auszugehen, daß – wo sich das Gegenteil nicht beweisen läßt – jede staatliche Einmischung in die Freiheit der Meinungsäußerung den Austausch von Ideen eher behindert als fördert.“ Das Gesetz zur Zensur des Internet war 1996 vom Kongreß verabschiedet worden. Es bedrohte jeden mit Geld- oder Gefängnisstrafe, der im Internet „unzüchtiges oder anstößiges Material“ in Wort und Bild anbietet. Das Gesetz war noch im gleichen Jahr von einem niederen Bundesgericht in Pennsylvania für verfassungswidrig erklärt worden. Das Oberste Gericht ließ diesen Richterspruch gelten.

Es geht nicht an, das, was Erwachsene sehen und lesen dürfen, auf den Nenner dessen zu bringen, was Kindern zuträglich ist, heißt es in der Urteilsbegründung. Das Internet sei eine riesige neue Plattform, von der aus sich Millionen Menschen in aller Welt Gehör verschaffen können. Für Bruce Ennis, der eine Koalition von Bürgerrechtlern, Softwareherstellern, Internetanbietern und Bibliothekaren vor Gericht vertrat, kommt der Urteilsspruch einer Geburtsurkunde für das Internet gleich.

Die Freude ist vielleicht verfrüht. Mit dem Urteil sind nicht alle Angriffe auf das Internet abgewehrt. Die Beaufsichtigung geht zunächst in die Zuständigkeit der Eltern über. Die werden von einer fleißigen Softwareindustrie schon mit Programmen umworben, die auf dem Personal Computer bestimmte Regionen des Cyberspace blockieren können. In Pennsylvania und Texas sind Gesetze in Vorbereitung, die Internetanbieter dazu verpflichten sollen, entsprechende Programme zum Lieferumfang ihrer Leistungen zu machen. Präsident Bill Clinton hat angekündigt, daß er sich mit Vertretern dieser Industrie treffen will. Für ihn ist das Urteil eine Gelegenheit, sich in ähnlicher Weise zu profilieren wie letztes Jahr bei seinem Einsatz für den Zensurchip für Fernsehapparate.

Gefährlicher aber noch als das jetzt aufgehobene Gesetz und als die privat installierbare Zensiersoftware ist eine neue Technik, die „Plattform für Internetinhaltauswahl“ heißt. Es handelt sich dabei nicht um einen Filter, sondern ein zunächst neutrales Bewertungssystem für Internetinhalte – das auf die Bewertungskriterien der Kirche ebenso getrimmt werden kann wie auf die der Nazis oder der Humanistischen Union. Da diese Technik aber viel tiefer in die eigentliche Internetinfrastruktur eingreift, kann sie auf allen Ebenen eingesetzt werden, auf der des Computers zu Hause, des Providers oder auf einem zentralen Server, durch den alle nationalen Leitungen laufen. So könnten Diktaturen wirkungsvoll den Internetverkehr in ihrem Hoheitsgebiet kontrollieren. Peter Tautfest