Dreimal täglich nette Worte

15.000 HamburgerInnen leben in Alten- und Pflegeheimen. Seit einem Jahr gilt für sie die Pflegeversicherung, die alle behalten möchten – aber nicht so, wie sie ist  ■ Von Judith Weber

L

A

N

angsam hebt die alte Frau den Löffel zum Mund. Ihre Hand wackelt zwar, aber die Suppe landet da, wo sie hin soll. Die Ärztin vom Medizinischen Dienst notiert: „Die Bewohnerin kann alleine essen.“Sie ordnet Frau Kornmann (Name geändert, d. Red.) der Pflegestufe zwei zu, die Kategorie für Menschen, die dreimal täglich Hilfe brauchen – sei es beim Waschen, beim Gang zur Toilette oder beim Anziehen. „Empörend“, findet Beschäftigungstherapeut Carsten Beckmann. „Das ist ein Paradebeispiel für falsche Einstufung.“

Denn Frau Kornmann hat Alzheimer. Für die PflegerInnen im Heim bedeutet das: Aufsicht fast rund um die Uhr. Frau Kornmann erkennt oft ihr Zimmer nicht wieder und braucht Begleitung bei Spaziergängen. „Der Medizinische Dienst macht doch nur eine Momentaufnahme“, schimpft Beckmann. „Daß die Patientin ausnahmsweise alleine gegessen hat, war der berühmte Vorführeffekt.“

Seit einem Jahr verteilen ÄrztInnen des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen (MDK) BewohnerInnen der Alten- und Pflegeheime auf vier Kategorien: Von Pflegestufe Null (nicht hilfebedürftig) bis drei (stark pflegebedürftig). Morgen feiert die zweite Stufe der Pflegeversicherung, die stationäre Pflege in Heimen, Geburtstag. Wieder abschaffen möchte sie nach einem Jahr niemand. So, wie die Versicherung jetzt ist, will sie allerdings auch keiner haben.

„Die Pflegeversicherung ist an sich eine gute Sache“, meint Gerda Schäfer, Leiterin des Altonaer Alten- und Pflegeheimes Fallen Anker. „Aber die Kriterien für die Einstufung müssen sich verbessern.“Mehr Mitspracherecht für die Heime beispielsweise und weniger Zeitdruck für den Medizinischen Dienst.

Der investiert etwa eine Stunde pro HeimbewohnerIn, schätzt Wolfgang Hauschild, stellvertretender Geschäftsführer des MDK Hamburg. 144 GutachterInnen sind in Hamburg unterwegs. „Sicher kommt es vor, daß sich mal einer weniger Zeit nimmt, aber das sind schwarze Schafe, von denen wir uns schnell trennen.“

Trotzdem sehen die HeimbetreiberInnen die MDK-Einstufung weiterhin als das Problem an. Denn wer niedrig eingestuft wird, zahlt auch weniger. „Wenn dann im Alltag der Pflegeaufwand höher liegt, leidet die Qualität“, sagt Schäfer. Fazit: Jedem seine Pflegestufe – aber bitte die richtige. uf seine Runde um den Block will der Mann nicht verzichten. Seit zwei Jahren wohnt er im Altenheim, jeden Nachmittag macht er mit einer Pflegerin einen Spaziergang. Wie die Versicherung ihn einstuft, interessiert ihn wenig. „Wir versuchen, diese Probleme von unseren Bewohnern fernzuhalten“, erzählt Heimleiterin Gerda Schäfer, „und wir probieren, die Pflegequalität trotz falscher Einstufung aufrecht zu erhalten.“

15.000 Menschen leben in Hamburgs 140 Alten- oder Pflegeheimen. Bis zum 1. Juli 1996 haben die Heime selbst festgelegt, wer wieviel Pflege braucht. Dafür gab es eine Einstufungstabelle. Seit einem Jahr können HeimbewohnerInnen und ihre Verwandten lediglich Widerspruch einlegen, wenn die Entscheidung des MDK ihnen nicht paßt. „Das machen wir in 95 Prozent der Fälle“, berichtet Schäfer. Die meisten Anträge und Widersprüche haben Erfolg. Auch Frau Kornmanns Familie widersprach erfolgreich.

„Damit hat die Pflegeversicherung einen hohen Verwaltungsaufwand gebracht“, sagt Andreas Meier, Geschäftsführer der Hamburgischen Pflegegesellschaft, einer Art Dachverband für Altenhilfe-Einrichtungen. Jedem Patienten seine Pflegestufe – so ein Ziel will auch bürokratisch betreut sein. achts kann die Frau nur selten schlafen. Sie rollt Teppiche auf und läuft durchs Haus. Am liebsten ginge sie in den Garten. „Demenzkranke brauchen eigentlich eine 24-Stunden-Aufsicht“, weiß Carsten Beckmann. „Diese Heimbewohner machen die Nacht zum Tag und haben einen unheimlichen Bewegungsdrang.“

Demenz-PatientInnen, also Menschen mit Alzheimer oder anderen Gehirnkrankheiten, zählen zu den Benachteiligten der Pflegeversicherung. „Sie müßten wegen der nötigen Betreuung eigentlich einen Zuschlag bekommen“, findet Stefan Rehm vom Diakonischen Werk in Hamburg. Das Gegenteil ist oft der Fall: Weil der sogenannte pflegerische Aufwand bei Dementen gering ist, werden sie meist in niedrige Kategorien gesteckt.

Wer Alzheimer hat, muß eben nicht im Rollstuhl herumgefahren werden. Mehr Zeit vergeht mit Gesprächen und sozialer Betreuung. „Menschliche Wärme ist enorm wichtig für Demente“, sagt Heimleiterin Gerda Schäfer. Das jedoch bringt niedrige Einstufung, bringt weniger Pflegegeld, bringt schlechtere Betreuung. Daß SeniorInnen sozial und psychisch betreut werden müssen, steht zwar im Pflegegesetz, gehört aber nicht zu den Einstufungskriterien. „Gefährliche Pflege“nennt Beschäftigungstherapeut Carsten Beckmann die mögliche Folge: „PatientInnen werden möglicherweise schlecht beaufsichtigt oder mit Medikamenten ruhiggestellt.“Also ruhig jedem Patienten seine Pflegestufe – aber eine, in der er ausreichend betreut werden kann.

In einem halben Jahr haben Heime und Organisationen die Chance, Mängel zu beheben, gemeinsam mit den Pflegekassen. Denn Anfang 1998 gilt die jetzige Drei-Stufen-Regelung nicht mehr. Was danach kommt, steht aber noch nicht fest.