Eine späte Flucht nach vorne

Deutsche Unternehmen zeigen sich zunehmend bereit, die Rolle ihrer Konzerne im NS-Staat offen zu reflektieren. Ein Tagungsbericht  ■ von Klaus-Peter Klingelschmitt

Zweiundfünfzig Jahre nach Kriegsende sind die Vorstände deutscher Unternehmen immer öfter bereit, sich mit der Rolle ihres Konzerns im Nationalsozialismus auseinanderzusetzen. Die Archive werden endlich geöffnet. Bei der anstehenden Aufarbeitung der eigenen Geschichte wird nach wissenschaftlichem Beistand gerufen. Die aktuellsten Beispiele: Die Deutsche Gold- und Silberscheideanstalt (Degussa) will von einem Gremium von Sozialhistorikern der Universität Köln klären lassen, in welchem Umfang das traditionsreiche Unternehmen in Frankfurt am Main in den letzten Kriegsjahren aus Profitgründen Goldzähne von ermordeten Juden und Goldringe jüdischer Ehepaare eingeschmolzen hat. Und: Wer trug dafür die Verantwortung?

Auch der in München ansässige Versicherungskonzern Allianz kündigte kürzlich an, seine Archive dem US-Historiker Gerald Feldman zu öffnen. Untersucht werden soll die Firmengeschichte vom Ende der Weimarer Republik bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Das Unternehmen hatte zuvor eingeräumt, durch die Versicherung von KZ-Betrieben dem „Holocaust bedenklich nahegekommen zu sein“.

Eine „Flucht nach vorne“ nannte dies Peter Hayes, Historiker und Professor an der Northwestern University im US-Bundesstaat Illinois. Er war von der vornehmen „Gesellschaft für Unternehmensgeschichte“ nach Frankfurt am Main eingeladen worden, um bei der ersten großen Tagung dieser Art, die je in Deutschland stattfand, über „Unternehmen und Unternehmer im Nationalsozialismus“ zu reden.

Hayes These: Wer als Unternehmer oder als Konzernvorstand die Beteiligung „seiner“ Firma an den Greueltaten der Nationalsozialisten offenlege, mache damit gleichzeitig deutlich, daß er sich heute von diesen Greueltaten und der damaligen Konzernpolitik distanziere. Er verwies darauf, daß dieses neue unternehmerische Ziel – Distanz zu den Verbrechen der Vergangenheit – nur erreicht werden könne, wenn solide Forschungsarbeit die noch immer kursierenden „grob vereinfachenden Versionen der Rolle der deutschen Unternehmer und Unternehmen im Nationalsozialismus“ ersetze.

Also: keine peinlichen Lücken mehr über die Zeit des Tausendjährigen Reiches in den Festschriften der Unternehmen; doch auch keine vereinfachenden Pauschalurteile mehr zur Rolle der Unternehmen und der Unternehmer im NS-Staat. Der US- amerikanische Historiker Henry A. Turner von der Yale-Universität, immer schon mehr dem konservativen Lager zugetan, plädierte für Nachsicht: „Welche Möglichkeiten gab es schon, unter den damaligen Umständen sauber zu bleiben, ohne die berufliche Pflicht zu verletzen?“

Für Turner ist der alte historische und politische Streit über die Frage von der Henne und dem Ei, also der über die Eigenständigkeit der Wirtschaft im Nationalsozialismus, längst entschieden (siehe Dokumentation auf dieser Seite). „Es gibt heute (unter Historikern, die Red.) Übereinstimmung darüber, daß während der zwölf Jahre des Dritten Reiches ein Primat der Politik herrschte“, konstatierte Turner. Dies sei nach aktuellem Forschungsstand nicht mehr zu bestreiten: „Vor der Machtübernahme war der Nationalsozialismus für fast alle Großunternehmer ein rätselhaftes Phänomen. Parteigenossen in ihren Reihen waren eine Seltenheit.“

Dennoch oder gerade deshalb, so Turner, sei die „schonungslose“ Aufarbeitung der Firmengeschichte das Gebot der Stunde: „Sonst ersetzen Gerüchte die historischen Fakten.“

Klaus Kocks, Vorstandsmitglied der Volkswagen AG in Wolfsburg, zog später, als es um den Bereich Automobil und Verkehr ging, noch nicht ganz mit. „Zur Familiengeschichte sage ich nichts, denn damit lassen sich keine Autos verkaufen.“ Er reagierte damit auf eine Debatte, in deren Mittelpunkt die Rolle von Ferdinand Porsche, Werksleiter des Staatsbetriebes VW im NS-Staat und enger Freund von Adolf Hitler, stand. Durch die im SS-Jargon genannte „Verschrottung“ von Menschen durch Zwangsarbeit bei VW habe er sich mitschuldig gemacht.

Zuvor hatte der renommierte, mittlerweile in Oxford lehrende Historiker Hans Mommsen behauptet, daß Ferdinand Porsche ein „eher unpolitischer Mensch, ein Tüftler“ gewesen sei. Mommsen gab kürzlich zusammen mit Manfred Grieger das über 1.000 Seiten starke Buch „Das Volkswagenwerk und seine Arbeiter im Dritten Reich“ heraus. Ein Kapitel der Studie ist der Rolle Porsches gewidmet. Mommsens Vereinfachung provozierte heftigen Widerspruch. Schließlich habe das Werk mit Porsche an der Spitze rund 3.500 Zwangsarbeiter bei Himmler angefordert, zwei Konzentrationslager unterhalten und ungarische Jüdinnen als Arbeitssklavinnen unter einer Fabrikhalle gefangengehalten.

Zudem habe er gerne und oft mit Hitler und anderen NS-Funktionären soupiert. In der Staatskanzlei sei Porsche ein stets willkommener Gast gewesen, empörte sich eine Frau bei diesem Symposium, „der Mann wußte genau, welche verbrecherischen Ziele die Nationalsozialisten verfolgten“. Tatsächlich revidierte Mommsen zur Überraschung aller später seine milde Eingangsthese. Von einer „unpolitischen Haltung“ könne wohl nicht gesprochen werden, auch wenn Porsche kein überzeugter Nationalsozialist gewesen sei.

Eine weitere Sektion der Tagung beschäftigte sich – nicht ganz so leidenschaftlich, aber dafür sehr informativ – mit der Rolle der Reichsbahn im Dritten Reich. Für die Debatte „Primat der Politik“ versus „Primat der Wirtschaft“ ist dies jedoch kein gutes Beispiel. Denn als reiner Staatsbetrieb hatte die Reichsbahn Dienstleistungen für den „Volksstaat“ und die „Volksgenossen“ zu erbringen und nicht primär Gewinne zu erwirtschaften. Doch wie die Reichsbahnleitung, die bis 1941 noch eine „zivile“ aus der Zeit der Weimarer Republik war, ihre Aufgaben im Rahmen der politischen Vorgaben löste, blieb ihr ganz alleine überlassen.

Der „Reichsbahnforscher“ Klaus Hildebrand von der Bonner Universität berichtete detailliert, wie die Reichsbahnleitung, der erst im zweiten Kriegsjahr ein strammer Parteigenosse als Direktor beigeordnet wurde, „maßgeblich zur Endlösung der Judenfrage“ beitrug. Deportationen per Eisenbahn waren ein gutes Geschäft für das chronisch defizitäre Unternehmen. Das Reichssicherheitshauptamt zahlte der Bahn aus den Geldern, die den Opfern zuvor geraubt worden waren, „vier Pfennig pro Kopf und Transportkilometer“.

Knapp die Hälfte aller ermordeten Juden wurden mit der Eisenbahn in die Vernichtungslager deportiert. Für die Reichsbahn sei das Ganze lediglich „ein technisches Problem“ gewesen – und die Deportierten nach der verinnerlichten NS-Rassenideologie ohnehin nur „Untermenschen“. Ihr Problem war einzig, die Todeszüge in den Gesamtverkehr zu integrieren. Diese Aufgabe hat das Unternehmen, so Hildebrand, vom Sommer 1941 an „perfekt bewältigt“. Die „Räder rollen für den Sieg“.

Und als die Alliierten dann gezielt die Gleisanlagen bombardierten, bekamen die Züge die trotzige Aufschrift „Wir fahren dennoch!“ verpaßt. „Gehorchen, schweigen, dienen. Das waren die Prinzipien der Reichsbahner.“ Sie hätten am besten die „Tradition des deutschen Beamtentums verkörpert. Loyal gegenüber der Obrigkeit bis zum bedingungslosen Gehorsam – egal, welche Ziele diese Obrigkeit verfolgte.“

Das Vorstandsmitglied der Gesellschaft für Unternehmensgeschichte, der Historiker Lothar Gall, hatte in seinem Eröffnungsvortrag auf den „in mehrfacher Hinsicht historischen Ort“ aufmerksam gemacht, an dem das zweitägige Symposium stattfand: Es war das IG-Farben-Gebäude in Frankfurt am Main. „Bis zum bitteren Ende“ hätten sich gerade die IG Farben in den Dienst des nationalsozialistischen Terrorregimes gestellt, präzisierte dies später Peter Hayes ohne jeden Widerspruch aus dem Auditorium.

Und deshalb, so Gall und Hayes übereinstimmend, dürfe der Gebäudekomplex nicht umbenannt werden. Damit würde er seinen Charakter als Mahnmal für die Verbrechen im Nationalsozialismus und auch als Denkmal für die Befreiung verlieren. Denn nicht umsonst hätten die US-Streitkräfte das IG-Farben-Haus nach Kriegsende als Hauptquartier genutzt – und die IG Farben zerschlagen. Die Historiker reagierten damit auf eine von konservativen Kreisen initiierte Debatte in der Mainmetropole, wonach der Gebäudekomplex in „Poelzig-Bau“ umbenannt werden solle. Der Architekt Poelzig hatte in den zwanziger Jahren das wuchtige Gebäude entworfen.

Daß es zum Abschluß der Tagung genau um die Rolle dieses Konzerns im Nationalsozialismus und speziell um die Degussa ging, war dann so etwas wie eine Bestätigung für den Einsatz von Gall und Hayes für die Beibehaltung des historischen Namens. Der Generalbevollmächtigte von Degussa, Michael Jansen, räumte ein, daß sich der Konzern „von sich aus“ darum bemüht habe, Gold und Silber ermordeter Juden einschmelzen zu können.

Und auf Vorhalt der Tochter eines ehemaligen Direktors von Degussa mußte Jansen auch zugestehen, daß der Konzern Schadenersatzansprüche früherer Zwangsarbeiter bis heute verschleppt habe. Daß dieser Aspekt auf dem Symposium (fast) keine Rolle spielte, hatte bei vielen der insgesamt etwa 300 Zuhörer bereits in den Kaffeepausen Unmutsäußerungen provoziert. „Die Opfer sind fast alle tot – und die Täter auch“, erbitterte sich der Geschichtslehrer Michael Knorn. Zusammen mit dem Sozialpädagogen Ernst Kaiser verfaßte er vor zwei Jahren eine Studie über die Vernichtung durch Zwangsarbeit in den Adlerwerken. Genau diese Tatsache sei heute der Hauptgrund, warum sich die Archive der Unternehmen im Gegensatz zu früher leichter und überhaupt öffnen: Die Forschung tue nicht mehr richtig weh.

Ähnlich auch Avraham Barkei, Leiter des Leo-Baeck-Instituts in Jerusalem. Die „stillen Teilhaber des nationalsozialistischen Terrors“, die Unternehmer im faschistischen Deutschland, seien heute leider nicht mehr zur Rechenschaft zu ziehen.

Hans Mommsen, Manfred Grieger: „Das Volkswagenwerk und seine Arbeiter im Dritten Reich“; Econ-Verlag, Düsseldorf 1996