Bluten bis zur Heilung

■ Alte Medizin neu entdeckt: Blutegel verschaffen bei Krankheit Linderung. Den Patienten geht es nach der Behandlung meist besser, die Würmer sterben den Tod im Marmeladenglas

Zielsicher schnappen die winzigen Zähne zu. Routiniert, schnell und mitleidslos. Sie verbeißen sich in die Haut ihres Opfers, das keine Chance mehr hat: Es muß bluten – vorher lassen die neunzig Haken nicht los. Denn auch ein Blutegel hat Hunger.

Die schwarzen, daumengroßen Tiere, die sich sonst gern in sauberen Gewässern tummeln, halten Einzug in die Großstadt. In Berlins Mitte, wo es außer Baustellentümpeln und dreckigen Kanälen kaum Wasser gibt, finden sie nun – bis zu ihrem gewaltsamen Ende – Obhut in einem alten Gurkenglas im Gründerinnenzentrum „Weiberwirtschaft“. Das Behältnis steht bei Heilpraktikerin Türkan Bali, die die Zwittertierchen mit den zehn Augen auf einige ihrer PatientInnen ansetzt. Vorausgesetzt, sie leiden unter Krankheiten wie Thrombosen oder Krampfadern.

Der sechsundsechzigjährige Ali Kaya ist einer von ihnen. Seit Jahren hatte er Krampfadern und litt unter furchtbaren Schmerzen. Nachdem er schon vieles ausprobiert hatte, beschloß er, sich Blutegel anlegen zu lassen. Türkan Bali setzte ihm sieben Stück aufs Kreuzbein, er verspürte einen kleinen stechenden Schmerz, dann setzte die betäubende Wirkung des Speichelsekrets ein. Fortan merkte Ali Kaya nur noch ein leichtes Saugen, bis nach einer Stunde schließlich die Tierchen nach und nach von ihm abfielen. Bis dahin hatte sich jedes von ihnen mit rund 5 Milliliter Blut vollgesogen.

Während Türkan Bali die satten Blutegel anschließend ihrem gewaltsamen Tod im Marmeladenglas durch eine Ladung Essigessenz auslieferte – aus Angst vor Infektübertragung darf jeder Blutegel nur einmal in den Genuß von Menschenblut kommen –, bluteten die sieben kleinen Wunden von Türkan Kaya noch rund einen Tag weiter. Anfangs war ihm noch etwas schummrig, doch dann ging es bergauf. Die ständigen Druckschmerzen in den Beinen ließen nach, er konnte wieder ohne Schmerzen Treppen steigen.

Die Blutegel-Therapie beruht vor allem auf der entzündungs- und gerinnungshemmenden Wirkung des Enzyms Hirudin. Dieses gelangt durch den Speichel des Blutegels in den menschlichen Körper, wo es das Blut verdünnt. „Dadurch fließen alle Körpersäfte leichter und schneller“, erklärt die zierliche Heilpraktikerin Bali, die seit eineinhalb Jahren die Therapie in ihrer Praxis anwendet. Äußerlich sichtbar ist der Erfolg, wenn geschwollene Beine schlagartig dünner werden.

Der Glaube, daß Blutegel Krankheiten heilen oder Schmerzen lindern, ist uralt. Schon Sanskrit-Aufzeichnungen aus dem Jahr 1000 vor Christus zeugen davon. Und im Mittelalter war die medizinische Blutegel-Therapie weit verbreitet.

Heute lassen sich nur noch wenige von Blutegeln therapieren. „Viele haben Angst oder ekeln sich schlichtweg“, bedauert Türkan Bali, die ihre Patienten nur sehr schwer von der Heilsamkeit dieser Methode überzeugen kann. Dabei überprüfen Ärzte und Heilpraktiker mittlerweile genau, wann sie wem Blutegel ansetzen. Die Patienten müssen sich insgesamt in guter Verfassung befinden, mehr als sieben Blutegel werden pro Patient nicht eingesetzt, und die verwendeten Tiere werden eigens in seuchenfreien Gewässern in der Türkei, Ungarn oder Griechenland gezüchtet, wo sie nur das Blut gesunder Rinder abschöpfen dürfen. In Deutschland müssen sie dann noch einige Zeit in Quarantäne bleiben, bevor sie per Versand oder in der Apotheke zu erstehen sind.

Türkan Bali hofft sehr, daß sich die Blutegel-Therapie allmählich durchsetzt. In den wenigen Jahren, in denen sie sich mittlerweile intensiv mit der uralten Heilform beschäftigt hat, hat sie eine eigenartige Liebe zu den schleimigen Würmern entwickelt. Stolz und zugleich mitleidsvoll betrachtet sie die Blutegel, wie sie sich mit ihrem Kopf am Rand des Gurkenglases entlanghangeln, eine Schleimspur hinter sich herziehend. Sie sind schon etwas abgemagert und leicht geschwächt von den langen Versand- und Hungerzeiten.

Und innerlich zuckt die Heilpraktikerin jedesmal ein wenig zusammen, wenn sie sich wieder das undankbare Schicksal ihrer Zöglinge bewußtmacht: Denn kaum dürfen sie sich zum erstenmal in ihrem Leben richtig mit Menschenblut vollaufen lassen, erwartet sie wenig später der Tod im Marmeladenglas. Gudula Hörr