Revolution ohne Revolutionäre

Zu Beginn des neuen Schuljahres sollen Polens Lehrer neue Inhalte und völlig neue Fächer unterrichten, ohne darauf vorbereitet zu sein  ■ Aus Warschau Gabriele Lesser

Die siebenjährigen Erstkläßler und ihre Eltern sitzen mit glänzenden Augen vor den Fernsehern: „Schulreform, neue Bücher, Entrümpelung des alten Lehrplans.“ Ein Politiker nach dem anderen geht ans Rednerpult: „Die Kinder sind unsere Zukunft!“ Auch den Lehrern versprechen die ersten nichtkommunistischen Abgeordneten im polnischen Parlament eine goldene Zukunft: höhere Gehälter und bessere Fortbildungsmöglichkeiten. Das war 1990. Die Euphorie war grenzenlos. Die Politiker der „ersten Generation“ starteten mit einem enormen Vertrauensvorschuß.

Heute, sieben Jahre später, gibt es noch immer keine Reform, dafür einen Bildungsminister, Jerzy Wiatr, der in den Jahren 1981 bis 1984 Direktor des Instituts für Marxismus-Leninismus beim Zentralkomitee der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei war. Der frühere Chefideologe der Partei, der schon im alten System die Privilegien der Macht genoß und an mehreren westlichen Universitäten gutbezahlte Gastdozenturen innehatte, bekennt auch heute öffentlich: „Ja, ich bleibe Sozialist und auch Marxist.“

Daß die Studenten schon einmal Eier werfen, weil sie sich von dem Bildungsminister verraten fühlen, und daß die Lehrer ein Mißtrauensvotum gegen ihn verabschieden, weil er keine seiner Versprechungen eingehalten hat, das alles ficht den Marxismus-Leninismus-Experten nicht an. Er hat darauf die immer gleiche Antwort: „Ich habe damit nichts zu tun. Ich bin der falsche Adressat.“

Immerhin hat jetzt die von ihm eingesetzte Reformkommission ein Projekt ausgearbeitet, das schon zum Beginn des neuen Schuljahres starten soll. Nur hat die „Revolution der Schule“ einen Haken – es gibt sie nur in der Theorie. Ideen für die Umsetzung in die Praxis hat die Kommission noch nicht entwickelt. Die Lehrer sollen ab dem 1. September neue Inhalte, sogar völlig neue Fächer unterrichten, sind aber in keiner Weise darauf vorbereitet. Informatik soll ebenso Pflichtfach werden wie Sexualkunde, Hygiene und Medienerziehung. Hauptstreitpunkt in der öffentlichen Debatte ist der Sexualkundeunterricht. Die katholische Kirche ist strikt dagegen, da den 11- bis 15jährigen Kindern doch tatsächlich der Anblick eines gezeichneten Paares in Missionars- und Reiterstellung zugemutet werden soll. Und nicht nur das! Die Pädagogen sollen auch über Verhütungsmethoden aufklären. Die Kinder sollen nicht nur wie bisher im Biologieunterricht erfahren, daß Sex mit Syphilis, Aids und Tripper behaftet ist, sondern auch Spaß machen kann. Daß Selbstbefriedigung nicht zur Impotenz führt und ein Kuß keine Schwangerschaft zur Folge hat. Für die Kirche ist das alles Pornographie und Erziehung zu pathologischem Verhalten. Andererseits bekennen in der Anfang Mai veröffentlichten Studie des Meinungsforschungsinstituts CBOS über 70 Prozent der befragten Polinnen und 82 Prozent der Polen, daß sie mehr fachliche Sexualaufklärung für sich wie für ihre Kinder wünschen.

Die Lehrer sind aber nicht nur ratlos, wenn es um Sexualerziehung geht, die meisten haben auch noch nie in ihrem Leben mit einem Computer gearbeitet. Videogeräte sind zwar in Polen gang und gäbe, doch was ist „Medienerziehung“? Soll mit den Kindern ein Videofilm gedreht werden? Sollen sie „Gewalt im Fernsehen“, Werbesendungen oder Talk-Shows analysieren? All das regt das Reformprojekt an, läßt aber nicht nur unbeantwortet, wie ein solcher Unterricht in der Praxis auszusehen hätte, sondern auch, welche Teile der alten Lehrpläne über Bord zu werfen sind.

Völlig offen ist die Frage der Finanzierung. Da weder der Bildungsminister noch die Reformkommission sich Gedanken darüber gemacht haben, wieviel die „Revolution“ kosten könnte und wer sie bezahlen soll, hat der Bildungsauschuß des polnischen Parlaments das Reformprojekt erst einmal ad acta gelegt. Verantwortlich für das Fiasko ist natürlich nicht Jerzy Wiatr. Für ihn liegt es am Bruttosozialprodukt. Solange dessen Höhe nicht bekannt sei und auch die Regierung keine langfristige Budgetplanung vorlege, könne er keine Kosten ermitteln. Er sei also „der falsche Adressat“.