■ Schlagloch
: Demokratie bringt irgendwie nix Von Friedrich Küppersbusch

„Welche natürliche Gabe möchten Sie besitzen?“ – „Gelegentlich empfinden, ohne zu denken.“

Roman Herzog im „FAZ“-

Fragebogen, 9.9. 1988

Die Absicht, „Bundespräsident aller Deutschen“ zu sein, klang löblich. Und ist doch kläglich: Noch Ende der 80er roch es in der Union, als könnte man auf eine „Bundespräsidentin aller in Deutschland“ gefaßt sein. Daß Hamm-Brücher gemobbt, Süssmuth gar nicht erst aufgestellt und schließlich Roman Herzog gewählt wurde, sagt deutlicher als manch tiefsinnige Analyse: Die linke Vorherrschaft in Deutschlands Debatten, wie sie FAZ, Welt, Focus und andere Widerstandsorgane behaupten, ist gerade soweit links von der Mitte wie Herzog von Heitmann. Verschwörungstheorien, wonach der Sachse nur die Peitsche war, mit der man uns das Zuckerbrot Herzog schmackhaft machte, klingen so abstrus, wie Heitmann vor den Mikros der Westmedien klang: possierlich, weltfremd, brummkonservativ. Die schlichte Logik „Herzog minus geschulte Rhetorik gleich Heitmann“ war zu hören. Der nicht minder donnernde Trugschluß vom „vergleichsweise liberalen Herzog“ ebenso.

Richtig ist, daß Herzog als Innenminister Baden-Württembergs die Polizei aufstockte, sie mit Reizgas ausstattete und „Gummiwuchtgeschosse“ forderte. Dann, und darin immerhin ein Visionär, änderte er die „Polizeikostenverordnung“, um „Teilnehmern an ungenehmigten Demonstrationen“ Rechnungen schicken zu können. Bemerkenswert für einen Mitautoren des gebräuchlichsten Grundgesetzkommentars, des „Maunz-Düring-Herzog“. In seiner Ministerbilanz rechnet sich Herzog schon 83, darin nun ganz Avantgardist, als Verdienst an, der „sogenannten Asylantenflut Herr geworden zu sein“, wie die FR erschrocken mitschrieb. Das mag erklären, warum der frischgewählte Bundespräsident keine Zuständigkeit für die sieben Millionen Nichtdeutschen im Lande beanspruchte in seinen oben zitierten Antrittsworten. Seine Bilanz unterscheidet ihn aber in der Sache kaum von aktuellen SPD-Landesinnenministern. Allenfalls im unverkrampften Ton. Freunde des Erbweizsäckertums mögen das bedauern.

Gleich zu Beginn seiner Amtszeit nimmt er sich in Israel der „großen Besorgnis“ an, mit der dort „rechtsextremistische Ausschreitungen in Deutschland verfolgt werden“. Ebenfalls noch 94 bittet er in Warschau die Polen „um Vergebung für das, was ihnen von Deutschen angetan worden ist“. Unmittelbar nach seiner Wahl hatte nicht nur Hans-Jochen Vogel Herzog vorgeworfen, zu diesen Themen geschwiegen zu haben. Nun absolvierte er sie, nicht sensationell engagiert, nicht widerwillig, aber pflichtgemäß.

Echtes Aufsehen erregt der Präsident im März 95 mit seiner ersten außenpolitischen Rede: Fundamentalismus, Migration, Drogenhandel seien weltweit zu bekämpfen. Prima! – jubeln die Rechten. Allerdings, so Herzog weiter, seien dies alles Armutsfolgen. Eben, eben! – loben die Linken. Auslandseinsätze und der Sitz im Sicherheitsrat dürften keine Statusfragen werden, mahnt Herzog auf sozialdemokratisch. Und schießt in deren darauf aufbrausenden Jubel eine epochale Frechheit hinterher: Deutschland müsse „zugeben, daß das Scheckbuch nicht immer ausreicht, sondern: daß möglicherweise auch einmal der Einsatz von Leib und Leben gefordert ist“. Die deutschen Interessen, die er auch mit Gewalt durchgesetzt sehen will, definiert er dann noch flugs als „Sicherheit und die Bewahrung von Wohlstand“. Und fertig ist die Laube: In einer allseits als „kritisch“ und „unbequem“ gefeierten Rede hat das deutsche Staatsoberhaupt mal eben zum besten gegeben, daß wir unsere Rohstoffquellen in aller Welt gegebenenfalls mit der Wumme unterm Arm besuchen kommen. Wir sind halt wieder wermacht doch nix, „ohne Tschingderassabum – aber auch ohne Verkrampfungen“. Spätestens hier mußte Streit mit diesem Chefrepräsentanten beginnen. Und frühestens hier datieren die ersten Versuche der Bild, Herzog zur zweiten Amtszeit zu bewegen. Nicht daß sie dessen nun müde geworden wäre – aber Herzog redet inzwischen zu häufig, um noch mithalten zu können.

Karlspreis-Verleihung, Kirchentag, documenta, Rio-Konferenz: Der Goschenroman beraubt sich schon selbst der Wirkung seiner Appelle, die eins auf des anderen Rücken springen und verklingen. Einmal zur „guten Wahl“ erklärt, rauscht durch, was der sture Gelegenheitsbayer in zunehmender Deutlichkeit formuliert. Ein geschlagenes Vierteljahr verstrich, seit sich Berlins Promopromi Hassemer ein Herzog-Event gönnte: die sicherheitshalber im vorhinein als „historisch“ angekündigte „Berliner Rede“. Erst diese Woche findet ein Kreis honoriger Wissenschaftler die Kraft zu einem offenen Brief des Protestes gegen Herzogs Rede. Dem Unterzeichner Jens Reich ist dabei zuzugestehen, daß es Überwindung kosten mag, den öffentlich zu schelten, dem er in der Bundespräsidentenwahl unterlag.

In Berlin hatte Herzog mit einem Evergreen eröffnet, dem Schimpf auf den „rituellen Ruf nach dem Staat“. Dann der Oldie vom schnarchenden Parlamentarismus – „Wenn Sie meinen, was Sie sagen, erwarte ich, daß Sie jetzt schnell und entschieden handeln“. Dann den Ökohanseln eins vor die Nase: „Kernkraft, Gentechnik, Digitalisierung“ – diese Debatten seien „verzerrt, teils ideologisiert, teils einfach idiotisiert“. Wissenschaftler wie Reich dürfen sich hier mindestens in der Wortwahl beleidigt fühlen. Daß sie dafür drei Monate brauchen, ist erschütternd. Herzog setzte den Gig fort mit ein paar FDP-Hits wie „Deregulierung, Steuern und Subventionen runter, niedrige Lohnabschlüsse, Krankenversicherung aufs Nötige reduzieren“. Und dann die aktuelle Single-Auskoppelung: Zum Thema Steuerreform „fällt mir nach der Entwicklung der letzten Tage überhaupt nichts mehr ein“. Ein Sack voller Spöttereien über die scheinbar ratlos rudernde Demokratie. Der Sack aber, so Herzog, heiße mit Vornamen Ruck und solle jetzt mal schön durchs Land gehen. Tut er.

Ende der 60er bereicherte der junge Lehrstuhlinhaber Herzog an der FU Berlin die Debatte über den tausendjährigen Muff unter den Talaren um die Gegenmeinung, neue Hochschulgesetze „degradierten die FU zu einer bloßen Lehranstalt“, die „in einer Springflut zeit- und nervenzehrender und dazu noch unfruchtbarer Debatten ertrinken wird“. Das läßt sich, bewußt unverkrampft, übersetzen mit „Demokratie dauert total lange und bringt irgendwie nix“, und das ist die bemerkenswert lange und gerade Linie im Lebenswerk des Bundespräsidenten.

Unsere Ahnen, sagen Forscher, waren eigenbrötlerisch, dickköpfig und selbstbewußt. Während andere Völker sich schon Könige wählten, konnten die Germanen sich nur im äußersten Notfall, für die Dauer eines Krieges, auf einen Chef einigen. Deshalb hieß der dann auch nicht König, sondern wie es seines Amtes war: der, der das Heer zog. Dieser Zufall aber tut nun schon weh, und die militärische Parallele ist mir zu dicke. Und außerdem ist das nicht so sehr gedacht, mehr empfunden.