Schonräume, dem Leben abgetrotzt

■ Bremerhavener Ausstellung würdigt Exempel der Nachkriegsstadtplanung: Ernst Mays Siedlung Grünhöfe

Wer Bremerhaven von Bremen aus mit dem Zug erreicht, wird kurz vor dem Hauptbahnhof an einer Siedlung vorbeifahren, die für den flüchtigen Blick nichts anderes darstellt als eine typische Baulandschaft der 50er Jahre. Häuser aus der Nachkriegszeit, gebaut, um den dringendsten Bedarf an Wohnraum in einer schwer zerstörten Stadt schnell zu decken. Daß die mehrgeschossigen Häuserzeilen dieses Ortsteils im Südosten Bremerhavens von einem der renommiertesten Stadtplaner aus dem Kreis der deutschen Avantgarde-Architekten entworfen wurden und daß sie mehr bieten als eine gesichtslose Ansammlung von Zweckbauten, dokumentiert jetzt eindringlich eine Foto-Ausstellung, die Eberhard Syring von der Bremer Hochschule für Künste konzipiert hat.

Ernst May (1886-1970) heißt der Architekt und Stadtplaner, der als Stadtbaurat in Frankfurt (1925-1930) moderne Wohnquartiere wie die Römerstadt und Praunheim initiiert hatte. 1930 war er in die Sowjetunion gegangen, während der Nazijahre lebte er in Kenia als Farmer. Nach seiner Rückkehr nach Deutschland 1954 wurde May Leiter der Planungsabteilung der Hamburger Wohnungsbaugesellschaft „Neue Heimat“. Mit seinem Entwurf für Bremerhavens Siedlung knüpfte er an die Nachbarschafts-Ideen der englischen Gartenstadt-Bewegung an. Zwischen 1954 und 1960 im Auftrag der „Neuen Heimat“erbaut, gilt Grünhöfe heute als exemplarisch für den Siedlungsbau der 50er Jahre.

Ein „Low Budget Projekt“nennt der Ausstellungsmacher Eberhard Syring zurückhaltend die jetzt zum 40jährigen Jubiläum Grünhöfes konzipierte Ausstellung. Es ist ein Projekt, das sich trotzdem sehen lassen kann. Mitten im Viertel hat Syring einen Raum entdeckt, der für sein Thema kaum besser hätte entworfen werden können. In der elegant geschwungenen Pausenhalle eines 50er-Jahre-Schulgebäudes hängen Bild- und Dokumentationstafeln an schlichten Bauzaun-Elementen. Auf 70 großformatigen Fotos wird der Bau der Siedlung festgehalten: Von der Besichtigung des Baugeländes über das Richtfest bis zu den bezugsfertigen Wohnblocks mit ihren ersten BewohnerInnen auf fast autofreien Straßen und halbfertigen Wegen.

Diese Bilder von unbekannten Fotografen, die Syring im Hamburger Archiv für Architekturgeschichte entdeckt hat, sind starke Fundstücke: Ihr Blick für Menschen und Mauern erinnert an die neorealistischen Filmbilder eines Roberto Rossellini oder Vittorio de Sica. Aber Syring stellt nicht nur den ästhetischen Reiz aus. Detailliert zeigt er, wie Ernst Mays Planung auf dem Weg zur Realisierung zurückgeschraubt wird. Seine Leitidee einer „gegliederten, aufgelockerten Stadt“– im Unterschied zum rigiden Zeilenbau mit streng parallelisierten Häuserblocks – konnte er angesichts der Finanznot nicht ohne Abstriche durchsetzen. Das geplante Gemeinschaftshaus fiel ebenso weg wie die Einfamilienhäuser oder ein zweites Hochhaus als Blickfang. Aus der Vielfalt der Wohnungstypen wurden einige wenige: 12.000 BewohnerInnen teilten sich 1960, als der letzte Bauabschnitt fertiggestellt war, 2.400 Wohnungen.

Zunächst kamen vor allem Flüchtlinge aus dem Osten und Ausgebombte, später kamen die ersten (portugiesischen) Gastarbeiter für die Arbeit im nahegelegenen Fischereihafen. Heute leben knapp 9.000 Menschen in Grünhöfe, ein Drittel sind AusländerInnen, unter ihnen stellen die TürkInnen die Mehrheit. Der Ortsteil im Grünen ist bei seinen BewohnerInnen beliebt. Ernst Mays humanes Siedlungskonzept ist trotz aller Abstriche sichtbar: Die gestaffelten, vorspringenden oder unterbrochenen Häuserzeilen, die zahlreichen kleinen Balkone zur Sonnenseite, die vorgesetzten Treppenhäuser und vorspringenden Eingänge, die Gruppierung der Blocks um mehrere Höfe aus bepflanzten Grünflächen retten seine Grundidee.

Sechs StudentInnen der Bremer Hochschule für Künste versuchen, gegen die nostalgiegeladenen Aufnahmen der 50er Jahre einen neuen und fremden Blick auf diesen Ort und seine heutigen BewohnerInnen zu werfen. Ihre Fotos betonen Details, in Schieflage gebrachte Hausecken (Myung Hee Shin), ausgetretene Trampelpfade (Laura-Marina Hammerschmidt), sie spielen mit dem Blick des Ethnographen (Paul Karolek), mit dem Panorama (Ralph Seifert) oder mit poetisch-theatralen Inszenierungen (Thomas Hellmann). Christiane Matthäi hat den Mut, in die Häuser zu gehen und ihre BewohnerInnen mitten in sorgfältig gestalteten Wohnzimmern aufzunehmen: Portraits von Paaren und Familien, die zwischen ihrem Interieur wie in einem dem Leben abgetrotzten Schonraum zu versinken scheinen. Beim Stadtteilfest „40 Jahre Grünhöfe“, das am Wochenende gefeiert wird, werden sie alle unterwegs und draußen sein. Hans Happel

„Ernst May, Die Siedlung Grünhöfe – Orte und Zeiten“bis zum 13. Juli in der Pausenhalle Nord der Fritz-Reuter-Schule, Auf der Bult 20; Öffnungszeiten 10-18 Uhr; Katalog fünf Mark