Chiffren der Beschleunigung

Das Auge des Kraftwagenfahrers: Er malte, zeichnete und rezitierte Schwitters' Dada-Sonaten, nun werden seine Arbeiten erstmalig nach 30 Jahren wieder in Berlin gezeigt  ■ Von Katrin Bettina Müller

Der Krieg gab ihm den wütenden Antrieb. Otto Nebel hatte von seiner ersten Ausbildung als Hochbaufachmann gerade auf die Schauspielerei umgesattelt, als er 1914 zum Kriegsdienst einberufen wurde. „Augen rechts / Beine raus / Kopf ab“, dichtete er gegen Kriegsende in der Gefangenschaft und sprang mit der Wortkaskade „Zuginsfeld“ auf die Bühne von Herwarth Waldens Sturm-Galerie: „Es ist rührend / Keiner rührt sich / Dieser Stillstand / Der Mann wird gerührt / Brei ist rührig / Der Mann wird gedient / Gedienter Mann wird Bediener / Bedienter ist Herr / Es ist verkehrt / Ganze Abteilung kehrt.“

In der ehemaligen Kunsthalle spielt ein Kassettenrecorder die nicht abreißenden Wortketten vor, die eine vom Militarismus und Untertanengeist kontaminierte Sprache zerpflückt, wendet und keine Assoziation frei von unterschwelliger Gewalt stehenläßt. Blitzschnell wechselte der Vortragende Nebel die Rollen und parodierte im Sekundentakt den knappen preußischen Befehlston. Bis 1960 rezitierte er seine Gedichte und die Dada-Sonaten von Kurt Schwitters, bis sich ihre anarchische Sprachlust mit dem antimilitaristischen Widerstand nach dem Zweiten Weltkrieg berührte.

Mit einer Ausstellung erinnert jetzt die Otto-Nebel-Stiftung an den aus Berlin stammenden Künstler, der in Berlin zum letztenmal 1966 in der Galerie Nierendorf zu sehen war. Seine Zeichnungen und Bilder entsprechen in der Freude an der Geschwindigkeit und einer kleinteiligen Zerlegung der Wahrnehmung Nebels Sprachakrobatik; kaum aber in der satirischen Schärfe.

Der Maler Nebel war in die Welt verliebt und feierte ihren visuellen Reichtum mit fast naiver Anmut. 1929 brachte er von einer Reise nach Paris eine Mappe mit, die das Leben als rasende Karussellfahrt schilderte. Räder und Brückenbögen überschneiden sich, spitze Lichtkegel schlagen Schneisen in das Dickicht der Großstadt, und wie auf einem Filmstreifen sind Großaufnahmen der Zuschauenden neben Chiffren der Beschleunigung montiert: Die Beine der Revuegirls folgen dem Takt der Batterie der Schornsteine, Straßenpflaster und Telegrafendrähte sausen vorbei, Fabrikdächer, Boxer, Hochhäuser, Artisten, Papierdrachen, Hüte und Vögel werden ins bewegte Ornament verflochten. Am Auge des Kraftwagenfahrers zischt die Welt vorüber. In ihren zersplitterten Spiegel baute Nebel auch Kathedralenfenster ein, in deren Komposition er die narrative Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Sinneseindrücke wiederentdeckte.

In Weimar hatte Nebel Klee und Kandinsky kennengelernt, in Ascona Marianne von Werefkin. Doch obwohl er sich in den Zentren der Moderne tummelte, wirkt sein Werk oft wie eine etwas zu akkurate Übersetzung ihrer Theorien. Die Spuren von räumlichen Ordnungen der Architektur halten sich am längsten in seiner zunehmend ungegenständlichen Bildsprache. Oft aber fehlt den sauber gestaffelten Flächen und geduldig gestrichelten Zonen die Prise Witz, die sie über ein freies geometrisches Spiel hinaushebt. Allerdings entstanden die meisten der heute erhaltenen Werke schon unter den bedrückenden Umständen der Emigration. Seit 1933 lebte Nebel mit seiner Familie in der Schweiz und litt am Verbot, seine Bilder zu verkaufen. Nur die Guggenheim Foundation unterstützte ihn. Über 100 der vor 1933 entstandenen Arbeiten wurden in Berlin durch Kriegseinwirkung zerstört. Bis zu seinem Tod 1973 arbeitete Nebel weiter mit freien Formen.

Rückblickend erstaunt die Nähe seiner Bilder aus den fünfziger Jahren zur Popart. Wie mit der Schablone aufgesetzt wirken viele der schwebenden, amorphen Formen, und die punktförmige Auflösung der Farbe scheint Lichtensteins Rasterpunkte vorwegzunehmen. Farben leuchten neonfröhlich. Eine Beweglichkeit aller Bildelemente überwindet die Statik der früheren Kompositionen. Nach einer Reise in den Nahen Osten versuchte Nebel auch, verschiedene kulturelle Codierungen mit aufzunehmen und kalligraphische Zeichen zu erfinden. Im Ornamentalen verfolgte er das Ideal der Gleichwertigkeit aller Bildzonen weiter, das schon seine frühen Zeichnungen prägte.

Budapester Str. 42, tägl. 10–18 Uhr, bis 16. Juli