In Hebron fordern palästinensische Steinewerfer an der Absperrung zum jüdischen Viertel ihren Gegner zum Straßenkampf heraus. Dort lauern inzwischen Undercoveragenten, die sich als Palästinenser getarnt haben. Aus Hebron Georg Baltissen

Tägliches Ritual am Zaun von Hebron

Hebron gegen Mittag. Ein israelischer Soldat liegt flach auf dem Steinboden an einer Häuserecke in der Altstadt, ein anderer verharrt in der Hocke und zielt auf die jugendlichen Steinewerfer – Entfernung knapp hundert Meter. Aber die palästinensischen Teenager trauen sich nicht mehr aus der Deckung. Sie sind überrascht. Nur fünf Minuten zuvor hat eine Undercover-Einheit der israelischen Armee vier Jugendliche aufgegriffen und an den Haaren hinter den fast 15 Meter hohen Zaun geschleppt, der den arabischen Markt vom jüdischen Viertel in Hebron trennt.

Die neue Taktik hat ihre Wirkung nicht verfehlt. Der erste Palästinenser, der festgenommen wurde, wollte noch mit seinem Gegenüber diskutieren – bis dieser ihm die Pistole vor die Nase hielt, die er in seinem Hosenbund versteckt hatte. Ein Fotograf, der die seltsam anmutende Szene festhalten wollte, wurde von anderen Undercoveragenten geschlagen.

Angefangen hatte alles mit dem üblichen Ritual der vergangenen zwei Wochen. Kids, viele erst sechs bis zehn Jahre alt, werfen die ersten Steine auf den Zaun. Zunächst halten sich die israelischen Soldaten zurück, nur wenige Steine werden zurückgeworfen. Dann plötzlich preschen die Soldaten vor, begleitet werden sie von maskierten Zivilfahndern, die den palästinensischen Steinewerfern zum Verwechseln ähnlich sehen. Journalisten und Passanten glauben denn auch zuerst an einen Disput unter Palästinensern, bis einer der Angreifer seine Faustfeuerwaffe zieht und unmißverständlich klarmacht, daß es sich um eine Festnahme handelt.

Andere verdeckte Ermittler haben sich inzwischen Mützen mit gelben Streifen übergestülpt. Ab sofort ist ihre Zugehörigkeit nicht mehr in Frage stellt. Beim Ansturm der Soldaten ist die Intifada- erfahrene Korrespondentin der israelischen Tageszeitung Ha'aretz hinter einem Eisengestell in Deckung gegangen. Mit dem Ruf „Hebräische Presse“ versucht sie die Soldaten davon abzuhalten, weitere Schüsse abzugeben. Diejenigen aber, denen diese Schüsse eigentlich gelten, sind längst um die nächste Ecke verschwunden.

Nur knapp drei Dutzend Jugendliche haben sich gegen Mittag auf dem Marktplatz eingefunden, um ihr tägliches Ritual zu absolvieren. Vier oder fünf von ihnen tun sich besonders wagemutig hervor, sie trauen sich bis auf wenige Meter an den Zaun heran, hinter dem rund 20 israelische Soldaten versammelt sind. Nur wenige Steine durchschlagen den Zaun. Diese jedoch sind nach ihrem Aufprall auf dem Asphalt wegen ihrer spitzen Kanten im Flug unberechenbar und damit eine Gefahr für die Soldaten.

Passanten und Kunden der umliegenden Geschäfte fliehen, zum Teil mit drei oder vier Matratzen auf dem Kopf. Ältere Palästinenser schlurfen eher gemächlich aus der Gefahrenzone. Die Gewöhnung hat sie bereits abgestumpft. Zwei Jugendliche haben ihre Steinschleuder dabei, mit der sich die Geschwindigkeit der Steinwürfe und damit die Gefährlichkeit ihres Aufpralls um ein Vielfaches steigern läßt. Das ganze dauert heute nur knapp eine Viertelstunde, dann ist militärische Routine angesagt: die Dächer der umliegenden Häuser besetzen, hinter Eckmauern Deckung suchen, Gespräche über Walkie-Talkie – Soldatenalltag in Hebron.

Soldaten seien es auch gewesen, so vermutet der Schulrat des Bezirks Hebron, die zwei Tage vorher die Ja'acobiya-Mädchenschule in der Schallala-Straße heimgesucht hätten. Die schweren Eisentüren sind aus den Betonangeln gehoben und liegen auf dem Boden. Im Innern der Schule sieht es aus wie nach einem Wirbelsturm. Die Tischtennisplatte ist verkeilt mit den altmodischen Schulbänken. Auf dem Boden liegen zertretene Federballschläger, aus dem Schrank gerissenes Spielzeug und Puppen der Kleinen. Brandflecken und die Reste von Soldatenmenüs zieren den ersten Stock.

Von hier aus geht der Blick über einen Großteil der Altstadt. Nicht wenige Jugendliche wurden von hier aus mit Gummigeschossen beschossen und verletzt. Die Rektorin der Mädchenschule hat Tränen in den Augen, sind die Soldaten doch erst vor wenigen Tagen in die Schule eingedrungen. Damals fand sich, so versichert sie, in allen Klassenräumen das inkriminierte Flugblatt, das den Propheten Mohammed als Schwein darstellt.

Die schweren, alsdann angebrachten Schlösser sind beim zweiten Mal ganz offensichtlich mit Schweißbrennern geöffnet, die Türen anschließend aus dem Betonrahmen getreten worden. Aufgeregt verlassen Schulrat und Rektorin gegen Mittag das Schulgebäude. Nicht ohne Grund: Nach dem Ausfall der Armee zeigt sich ein israelischer Soldat im Fenster des ersten Stocks der Schule.

Keine Frage, das Geschehen in Hebron beherrschen die israelischen Soldaten, nicht die palästinensischen Steinewerfer. Das Gerücht, daß es in einer Stunde zu einem neuen Ansturm kommt, bestätigt sich nicht. Die Unruhen scheinen erst mal zu Ende zu sein. Aber in Palästina sind Schulferien. Und etwas anderes als Steine zu werfen haben die Schüler in Hebron in den Ferien nicht zu tun.