Da strahlen Atomkraftwerk und Politiker

■ Wissenschaftler-Kongreß spricht AKW Krümmel von Krebsverursachung frei

Umweltsenator Fritz Vahrenholt (SPD) wirkte höchst zufrieden. „Das war interessant“, lobte er am Samstag beim internationalen Kongreß „Molekularbiologie“die These Winfried Gassmanns zur Entstehung kindlicher Leukämien in der Elbmarsch. Für den Siegener Krebsforscher scheidet das AKW Krümmel als Ursache aus: Die Leukämieform, an der die Mehrzahl der Kinder im Fünf-Kilometer-Radius um Krümmel erkrankt sei, könne nicht durch Niedrigstrahlung ausgelöst werden. Folglich stelle das AKW keine Krebsgefahr dar.

Worte, die den Umweltsenator aufatmen ließen: Vahrenholt ist Aufsichtsratsvorsitzender der Hamburgischen Electricitätswerke, die das AKW mit dem niedersächsischen Energieversorger PreussenElektra betreiben.

Wissenschaftler unterscheiden vier Typen von Leukämie: akute lymphatische (ALL), chronische lymphatische (CLL), akute myelogische (AML) und chronische myelogische Leukämie (CML). Unterscheidbar sind sie nur am Mikroskop; im Krankheitsverlauf ähneln sie sich. Die meisten Kinder in der Elbmarsch sind an ALL erkrankt. Die aber, so Gassmann, werde „höchstens durch eine sehr hohe Strahlendosis“ausgelöst. Das bewiesen klinische Untersuchungen aus Deutschland, Skandinavien und den USA: Kinder, die mit niedriger, dem Krümmel-Umfeld ähnlicher Dosis behandelt worden seien, wären eher an myelogischen Leukämien erkrankt, lymphatische würden eher durch Infektionen ausgelöst.

Die meisten Hiroshima-Opfer mit geringerer Strahlendosis seien an ALL erkrankt, entgegnet der Bremer Epidemiologe Wolfgang Hoffmann. „Das steht in jedem Lehrbuch.“Und: „Weder Studien an bestrahlten oder mit Chemotherapie behandelten Patienten noch Tschernobyl lassen sich mit Krümmel vergleichen.“Gassmann widerspricht: Die Hiroshima-Daten seien „wackelig“. Erst ab 1970 habe man verläßlich zwischen den Leukämien unterscheiden können. Die Daten aus Hiroshima – unterteilt nach ALL, CLL, AML, CML – aber stammten zum Teil von 1950. Die Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs reagieren empört: Die Unterscheidung der Leukämien sei im nachhinein verläßlich erfolgt – anhand der aufbewahrten Blutproben.

Für Kontroversen sorgte auch der Münchner Physiker Albrecht Kellerer. Er untersuchte die Entwicklung kindlicher Leukämien in Weißrußland zwischen 1982 und 1994, also vor und nach dem Reaktorunfall von Tschernobyl im April 1986. Nach der Katastrophe „fand sich keine Zunahme“, erklärte Kellerer. Mit durchschnittlich jährlich vier bis fünf Erkrankungen pro 100.000 Kinder liege die Rate im westeuropäischen Mittel. Er warne davor, „die Krümmel-Diskussion mit Vorurteilen statt Fakten zu führen“.

Daß er seine Daten lediglich beim Tumorregister von Minsk erhob, dem weißrussische Krankenhäuser die Fälle mehr oder minder freiwillig meldeten, ist für Albrecht kein Problem: „Warum sollten die Russen Interesse an falschen Daten haben?“Die Leukämiefälle erfaßte Albrecht anhand der Verwaltungsbezirke, „leider nicht nach den Radien um den Reaktor“. Was aber für eine Vergleichbarkeit nötig wäre, monieren Statistiker.

Das Kieler Energieministerium als Aufsichtsbehörde von Krümmel hält die Erkenntnisse für „Behauptungen“(s. Interview). Um den Leukämie-Ursachen auf die Spur zu kommen, hat es deshalb eine strahlenbiologische sowie eine anlagentechnische Studie für je 250.000 Mark in Auftrag gegeben. Heike Haarhoff