■ Normalzeit
: „Privatisation sauvage“

So nennen einige afrikanische Wirtschaftswissenschaftler listigerweise die Tätigkeit der europäischen und amerikanischen „Berater“, die mit IWF-Geldern „ihre“ Bodenschätze, Minen etc. an G7-Konzerne verscheuern. Parallel zu diesem „Mega-Trend“ entwickelt sich eine ungeheuer ideologische Selbstverantwortlichkeitspolitik. Zeit-Redakteur Jörg Lau witterte dahinter neulich schon fast das Aufkommen eines „Vierten – Normativen – Reichs“. Doch kommt auch der einzelne bei dieser privatisation sauvage in Schwung. Neulich sprach ich mit einem HipHopper, der sich mit anderen rückwärts von Bühnen fallen läßt – in die Arme wieder anderer – und kein Fleisch ißt. Ein HipHop-Veganer, wenn ich das richtig verstanden habe. Wiglaf Droste macht sich über solche und ähnliche Existenz-Kombinatoriken gern lustig.

Neulich bekam auch ich dafür schon eine Rüge – in einem Leserbrief, in dem eine Zote von mir über Veganerinnen kritisiert wurde. Inzwischen habe ich bereits einen richtigen – wenn auch blöden – Witz darüber gelesen: „Kann eine Veganerin einen Mann lieben? Sie kann, wenn er weder Fisch noch Fleisch ist.“

Der Witz stammt aus dem Jahr 1960 – vom Arzt und Schriftsteller Wassili Axjonow, den man einen sowjetischen Kerouac nennen könnte. Der Sohn der 1937 nach Kolyma deportierten Jewgenia Ginsburg lebt heute in den USA. Damals, Ende der fünfziger Jahre, gab es übrigens in Sibirien, in Chabarowsk, bereits Roller-Skates: Rollschuhe mit jeweils vier hintereinander rollenden Rädern. Nicht alle Szene-Accessoires kommen also aus den USA.

Andersherum macht gerade die in der Nähe Sibiriens – in Ulan Bator – lebende 13jährige Angara in Berlin Urlaub: Jeden Tag läuft sie auf dem Breitscheidplatz und auf dem Alexanderplatz mit US- Roller-Skates, wobei sie eine bunte Latzhose und ein Baseball- Cap trägt. Sie ist groß gewachsen und trägt dazu noch Plateausohlen. Diese junge Mongolin ist geradezu supermodern. Ihr Vater, Domdog Bartschagal, ist Gründer und Chefredakteur der mongolischen Wochenzeitung super, mit der er Popmusiksängerinnen, Gentlemen-Contests und andere entstaatlichte Jugendkultur- Events fördert (auch als Veranstalter). Zur Zeit absolviert er ein Praktikum bei der taz. 1972 war er das erste Mal in Deutschland: auf einem Pionierlager am Werbellinsee. Er studierte dann Mongolistik – in Irkutsk, deswegen heißt seine Tochter auch „Angara“ – wie der Fluß, an dem die Stadt liegt.

Wir besuchten am Wochenende zusammen Sanssouci – und fotografierten Angara auf den Treppen. Alle fotografierten sich dort auf den Treppen: Amerikaner, Koreaner, Schwaben und sogar zwei Nonnen aus Kapstadt, die sich vom Kirchentag in Leipzig erholten. Im Caputher Fährhaus kamen wir bei einem Spargelessen mit ihnen ins Gespräch. Später schenkte er mir eine Kassette mit Musik von der Sängerin Saratoja (Mondschein) – mit dem Titel „Dreaming in Gobi“. Sie ist in Asien so populär, daß sie sich mittlerweile einen dicken Amischlitten leisten kann.

Bartschagal betreibt die privatisation sauvage seit 1992 im Selbstversuch. Er will noch ein Geschäft mit preiswerter, europäischer Herrenmode in Ulan Bator eröffnen. Es gibt dort übrigens eine Französin, die von Sozialhilfe lebt, die ihr regelmäßig nach Peking überwiesen wird: Einmal im Monat muß sie durch die Wüste Gobi dort hinfahren. Und einmal im Jahr macht sie Urlaub in Paris, meistens in Begleitung eines oder zweier Mongolen – die für 3 Franc 500 Tugruk hinblättern müssen.

Von Françoise, der Schlagersängerin und taz-Layouterin, erfuhr ich gerade eine Geschichte über einen entschiedenen Gegner der privatisation sauvage: einen alten Arzt in Hamburg, den sie aufsuchte, weil sie hustete und starke Brustschmerzen hatte. „Soll ich mit dem Rauchen aufhören?“ fragte sie ihn verzagt. „Um Gottes willen“, sagte er, „rauchen Sie nur, solange sie Spaß dran haben. So weit kommt es noch, daß wir jetzt auch noch für unsere Krankheiten selbst verantwortlich sein sollen...“ Helmut Höge

wird fortgesetzt