Am hinteren Ende der Straße

■ Tod einer Legende: Charles Kuralt war der Jack Kerouac des Fernsehzeitalters. Er erzählte die alltäglichen Geschichten jenseits der großen Nachrichten

Er wollte nie „zu Hause“ sein. Was hätte er da auch tun sollen? Auch „Freizeit“ wollte er nicht. Womit hätte er sie füllen sollen? Das einzige, was ihn interessierte, waren Geschichten –, und die beste wartete immer hinter der nächsten Wegbiegung oder Abzweigung. Nach 30 Jahren on the Road starb Charles Kuralt am 4. Juli im Alter von 62 Jahren.

Kuralt war der Jack Kerouac des Fernsehzeitalters. In seiner Person und seiner Art des Journalismus manifestiert sich ein amerikanischer Mythos: Amerika ist ein Labyrinth, dessen Wesen und Bedeutung nur erfährt, wer aufbricht und sich in der Unendlichkeit seines Straßensystems verliert.

1934 in Wilmington, North Carolina, geboren, kam Charles Kuralt 1957 mit 23 zum CBS, deren jüngster Auslandsreporter er wurde. CBS schickte ihn auf Missionen nach Lateinamerika und Vietnam. Doch Kuralt hielt es in der Welt der Nachrichten nur 10 Jahre aus.

Dann schlug ihn jene Erleuchtung, die vor ihm schon manchen Journalisten berühmt gemacht hat: Das wirkliche Leben sind nicht die Schlagzeilen und die großen Ereignisse, das wirkliche Leben spielt sich da draußen am Ende jener Straßen ab, die keiner mehr fährt, seit es das große Highway-System gibt.

Mit dieser Leidenschaft muß ihn sein Vater angesteckt haben. Kuralt berichtet, wie der allabendlich nach Hause kam und als erstes nach „Ernie“ – nicht nach Charles – fragte. Mit Ernie war die Kolumne Ernie Pyles gemeint, der in den 30er und 40er Jahren durch die Lande reiste und von unterwegs täglich eine Kolumne schrieb, die in Dutzenden von Zeitungen nachgedruckt wurde. Kuralt machte es wie sein Vorbild und erklärte eines Tages seinem Boß, daß er es in der Redaktionsstube nicht mehr aushielte, daß er statt dessen hinaus ins Land wolle, um vom wirklichen Leben, von normalen Menschen und von alltäglichen Geschichten zu berichten. „Sonst vergesse ich über der dünnen Luft der Schlagzeilen den Geruch das Landes.“

Kuralt besorgte sich einen alten Wohnwagen und zog mit dem Segen des CBS auf Abwege. Er produzierte wöchentlich eine Fernsehkolumne über jene Menschen, die in den Nachrichten sonst nicht vorkommen. Seine Geschichten handeln von Leuten wie Mr. Bushmill, der fand, daß von Duluth nach Fargo eine gerade Straßenverbindung führen sollte, und sich mit Schippe, Schubkarre und Bulldozer selbst an die Arbeit machte, weil die Staaten von North Dakota und Minnesota sich nicht auf die Finanzierung einigen konnten. Als Kuralt ihn traf, baute er seit dreißig Jahren an dieser Straße und hatte im Alter von 78 Jahren 11 Meilen der 180-Meilen-Strecke geschafft.

Jede Generation hat in Amerika den Schriftsteller oder Journalisten gefunden, der die Ruhelosigkeit des Landes und die Suche nach jenem eigentlichen Amerika verkörperte, das von Generation zu Generation im Fortschritt verloren zu gehen schien. Mark Twain reiste noch auf dem Mississippi, Ernie Pyle war der erste Road- Journalist, der das Straßensystem Amerikas zum Medium der Entdeckung machte. Kerouac war der Autor des numerierten US-Highways (wie der Route 66). Wie Kuralt hat William Least Heat Moon dann mit seinem auch ins Deutsche übersetzte „Blue Highway“ auf die Fertigstellung des Interstate- Straßensystems reagiert. Dank dem Interstate Highway System ist es heute möglich, von Küste zu Küste durch das Land zu reisen, ohne etwas zu sehen, schreibt Kuralt in seinem Buch „On the Road with Charles Kuralt“.

Die Popularität solcher Bücher beruht auf der populistischen Grundströmung Amerikas. Kuralts Arbeitsweise scheint darüber hinaus die heutige Mediendebatte vorweggenommen zu haben. Haben der Rückgang der Auflagen und Einschaltquoten, hat der schlechte Ruf der Medien nicht seinen Grund darin, daß die Journalisten keine Ahnung von dem Land haben, für das sie berichten, und die Menschen nicht kennen, für die sie schreiben?

Kuralts Anfänge als Road-Reporter lagen in den Wirren der späten 60er Jahre. Amerika ist für Kuralt immer anders gewesen, als es die Schlagzeilen suggerierten, und sein Stil war immer langsamer als das aufgeregte Tempo der großen Nachrichten. Darauf beruhte die Beliebtheit seiner Sendung und seiner sieben Bücher. Peter Tautfest