Alles im Rohzustand

■ Lev Dodin mit "Platonov", die Handspring Puppet Company mit "King Ubu & the Truth Commission" in Weimar

Weimar hat gerade mal 60.000 Einwohner, ächzt unter der Last von Namen wie Goethe, Schiller, Wieland, Nietzsche, Wagner und wirkt wie ein aufgeblähter Klassikerballon. Dieser Tage ist der idyllische Kulturgarten zwischen Erfurt und Jena eine einzige Baustelle. 1999 wird Weimar die bis dahin kleinste Kulturstadt Europas sein (und wohl auch bleiben), also soll sich zumindest im äußeren Erscheinungsbild was Kulturmetropolisches wiederfinden. Will man zu einer der zehn Spielstätten des diesjährigen Kunstfestes mit Theater, Tanz, Lesungen, Performances und Musik, hat man zuerst einmal einen urbanen Hindernisparcours zu überwinden.

Das gilt auch für die Anfahrt zum E-Werk, wo es am Freitag eine Premiere der besonderen Art gab. Lev Dodin war mit seinem St. Petersburger Maly Drama Theater und der Inszenierung von Tschechows Jugendsünde „Platonov“ angereist, die nur in Koproduktion mit dem Kunstfest zu realisieren war. Die finanzielle Situation des Maly Theaters ist alles andere als rosig, trotzdem hat Dodin eine Inszenierung gewagt, die schon aufgrund des Bühnenbildes nicht beliebig von Festival zu Festival zum Zwecke der Geldvermehrung weitergereicht werden kann.

Zum E-Werk also, einem der extravagantesten Weimarer Spielorte. Von der Altstadt aus passiert man das Stadtschloß (renovierungsbedürftig), überquert die Ilm und den Ausläufer der von Goethe konzipierten Parklandschaft (romantisch), bis man plötzlich vor der rüd-charmanten Industrieruine E-Werk steht. Drinnen findet sich einer der interessantesten Spielorte des deutschen Festivalbetriebs. Alles ist im Rohzustand, auf Bühnenhöhe klafft ein Graben, der normalerweise überbaut wird. Lev Dodin allerdings fand genau das vor, was er suchte.

Er hat unter das Sommerhaus der verarmten Generalin Anna Petrowna, in dem sich schon beim jungen Tschechow die üblichen adligen Loser, proletarischen Emporkömmlinge, Melancholiker, skurrilen Typen, Liebeskranke und Phantasieverrückte tummeln, ein riesiges Bassin bauen lassen. Wer sich umbringen will, läßt sich aus zwei Meter Höhe ins Naß fallen; wem es zu heiß wird, der taucht elegant ab.

Sergei Kuryschew dümpelt als Platonov im Theatersee wie ein Wal nach einer Schlankheitskur. Die Frauenwelt ist verrückt nach ihm, aber das Walwesen ist zu müde und entscheidungsarm. Kuryschew spielt das lange Zeit schön zurückhaltend, und als stehe er unter Drogen.

Irina Tytschinina spielt wunderbar intelligent die junge Sofja, die Frau von Platonovs Freund. Es reißt sie mehr und mehr zu Platonov hin, allerdings darf nicht so recht wahr sein, was sich da mit ihr ereignet. Über weite Strecken setzt Dodin das als fließendes, musikgeschwängertes Gesamtkunstwerk um, in dem alle Schauspieler mehrere Instrumente spielen. Beim Showdown allerdings verliert er die Kontrolle, und sein Platonov wälzt sich zu lange in melancholischem Leid, bevor Sofja ihn mit einem gezielten Schuß erlöst.

Sein Bassinkunstwerk ist, wie gesagt, nicht ohne weiteres zu verpflanzen. Wesentlich einfacher hat es dagegen die südafrikanische Handspring Puppet Company, die zu Beginn des Kunstfestes mit einer Uraufführung nach Weimar kam. Auch ihr hintersinniges Spiel mit Schauspielern und Puppen wurde im E-Werk gezeigt. Die Company bleibt sich treu, adaptiert Klassiker des europäischen Theaters für den afrikanischen Kontinent und verhandelt dabei die unrühmliche Kolonialgeschichte. Seit die Truppe allerdings mit dem Zeichner und Animationsfilmer William Kentridge zusammenarbeitet (auf der documenta sind zwei seiner Zeichentrickfilme zu sehen), gewannen Schauspielelemente immer mehr an Gewicht und gerieten Adrian Kohlers Puppen etwas in den Hintergrund.

Jetzt, da die Company Alfred Jarrys „König Ubu“ für ihre Zwecke umgeschrieben hat, wird das besonders deutlich. In der Version von Kentridge (Buch: Jane Taylor) wird der Despot Ubu von den geschichtlichen Ereignissen überrollt und hat die Chance – wie das seit den ersten freien Wahlen 1994 in Südafrika möglich ist –, seine Verbrechen vor der nationalen Wahrheitskommission zu gestehen. Der Preis wäre: Amnestie. Ubu schwankt zwischen Feigheit und Größenwahn, wird in geradezu antiker Manier von Erinnyen getrieben. Dawid Minnaar spielt das in Unterhose und Unterhemd und ist ein entgleister burischer Großgrundbesitzer, der in seiner drahtigen Art etwas Verschlagenes hat.

An seiner Seite Busi Zokufa als Ma Ubu, die ihren Pa Ubu erdrücken könnte. Sie spielt die afrikanische Urmutter als Kollaborateurin des weißen Mannes. Ihre einzige Sorge: Ubu könnte nachts willenlos fremdgehen. Wenn sie dann erfährt, daß er in der Dunkelheit seinem Terror- und Foltergeschäft nachgeht, spielt Zokufa zweierlei: Als afrikanische Mutter ist sie erschüttert, was ihrem Volk angetan wird; als Kollaborateurin nimmt sie erleichtert zur Kenntnis, daß ihr Mann „nur“ foltert und nicht fremdgeht. Und so ganz nebenbei hat sie jetzt auch ein Druckmittel gegen Ubu in der Hand. In einer der eindrücklichsten Szenen steht Minnaar vor der großen Leinwand im Hintergrund, auf der ein großes, weißes Zokufa-Konterfei zu sehen ist. Sie wird zur Anklägerin oder Denunziantin, je nachdem wie man ihre Rolle sieht.

Neben diesem furiosen Paar agieren in kurzen Intermezzi Adrian Kohlers Puppen. Sie sind die Opfer des Terrorregimes und berichten, wie sie gefoltert wurden oder wie man ihnen zerstückelte Angehörige präsentierte. Als dritte Ebene kommen Kentridges Animationsfilme dazu, und natürlich tauchen auch wieder Vertreter jener seltsamen Puppenwesen auf, die den Stil der Truppe prägen: ein Taschenkrokodil, Ubus Reißwolf zur Vernichtung belastenden Materials, und Ubus Scherge, ein Kofferbrutus, aus dem drei Hundeköpfe wachsen. Ab September tourt „Ubu & the Truth Commission“ durch Deutschland und Europa. Wie im Falle des Maly Theaters könnte die Truppe ihre Arbeit in Südafrika ohne die Auftritte in Europa nicht finanzieren. Jürgen Berger