„Europa endet nicht mit Polen und Tschechien“

■ Der Politologe Artis Pabriks promovierte in Dänemark über Nationalismus in Lettland. Zur Zeit ist er Rektor einer lettisch-norwegischen Hochschule in Valmiera

taz: Die baltischen Staaten werden auf dem Nato-Gipfel in Madrid nicht als Kandidaten für die erste Runde der Osterweiterung des Bündnisses benannt werden. Was bedeutet diese Absage für Sie?

Artis Pabriks: In Lettland hat niemand erwartet, daß wir in der ersten Runde aufgenommen werden. Für uns heißt es jetzt, je weniger Länder in der ersten Runde sind, desto besser. Werden jetzt schon drei oder noch mehr Länder aufgenommen, sehe ich kaum eine Chance für eine weitere Runde. Warum sollte sich zum Beispiel Deutschland noch für eine Erweiterung einsetzen, wenn seine beiden direkten Nachbarn Polen und Tschechien schon in der Nato sind?

Welche Bedeutung hat die Nato für die Bevölkerung in Lettland?

Die Leute wollen Sicherheit, und die erhoffen sie sich von der Nato. Vor allem die ältere Generation hat Angst. Für sie gibt es nur die Alternativen Nato oder Rußland. In Lettland wurde in den letzten Wochen heiß über dieses Thema diskutiert. Uns ist sehr wohl bewußt, daß unsere Armee in dem miserablen Zustand, in dem sie sich zur Zeit befindet, kaum Nato-kompatibel ist. Solange wir keine Strategie haben, wie wir unsere Armee aufbauen und für die Nato vorbereiten wollen, wäre es einfach Unsinn, eine Aufnahme in die Nato zu erwarten.

Und darum ist nun erst einmal der EU-Beitritt angesagt?

Ja, aber es wird sehr wohl differenziert zwischen Nato und EU. Die EU bietet natürlich weniger Sicherheitsgarantien, weswegen viele den Nato-Beitritt bevorzugen. Dennoch würde, wenn es jetzt ein Referendum in Lettland gäbe, laut Umfragen über die Hälfte der lettischen Bevölkerung für den EU-Beitritt stimmen. Allerdings sind auch über 30 Prozent der Letten unentschieden, ob sie für oder gegen einen Beitritt sein sollen. In Estland waren ganz klar 59 Prozent der Leute für einen Beitritt, 41 Prozent dagegen. Ich führe die lettische Unentschiedenheit vor allem darauf zurück, daß zu wenig über die Bedeutung eines EU- Beitritts und auch über die EU an sich informiert wurde.

Gibt es Maßnahmen, um dies zu ändern?

Der Minister für Europaangelegenheiten kümmert sich seit einigen Monaten verstärkt um die Aufklärung in Lettland, bisher engagierte er sich mehr außenpolitisch. Er gibt nun eine Zeitschrift heraus, in der über Europa und die EU informiert wird. Die Zeitschrift wird aber, meiner Meinung nach, zu selten angeboten, sie kostet einen Lat (drei Mark). Ende Mai wurde außerdem eine regierungsunabhängige Organisation „Bewegung für Europa“ gegründet. In ihr sind Politiker, Wissenschaftler, sozial aktive Leute und Journalisten vertreten, also Leute aus allen für die politische Aufklärung strategisch wichtigen Bereichen der Gesellschaft. Sie haben erklärt, sie wollten endlich die Idee Europas ins öffentliche Bewußtsein bringen, und sie sind sehr ambitioniert.

Was halten Sie davon, daß Estland erklärt hat, es würde auch allein der EU beitreten?

Generell bin ich dafür, daß das Baltikum als eine Region Europas betrachtet wird, die sich in dieselbe Richtung entwickelt. Aber wenn ein Land die geforderten Aufnahmekriterien erfüllt, muß es aufgenommen werden, unabhängig davon, wie weit seine Nachbarn in ihrer Entwicklung sind. Entscheidend ist nur, daß die Kriterien für alle Länder dieselben sind. Daß also beispielsweise für Estland die gleichen Kriterien gelten wie für Polen.

Ich glaube nicht, daß es große Unterschiede zwischen den baltischen Staaten gibt, was die Erfüllung der Kriterien angeht. Estland hat es nur früher und besser verstanden, seine Erfolge zu verkaufen. Wo die Esten immer etwas übertreiben, neigen die Letten eher zur Untertreibung. Die Chancen für einen Beitritt aller drei baltischen Staaten sind meiner Meinung nach etwa gleich. Übrigens sehe ich auch keine bedeutenden Unterschiede zwischen Polen und Lettland.

Wie wird Lettland Ihrer Meinung nach reagieren, wenn es weder in die Nato noch in die EU aufgenommen wird?

Die Balten werden kämpfen, bis sie beitreten können. Wir werden nicht aufhören, an die Tür zu klopfen. Wichtig wird aber vor allem sein, daß wir auf dem Nato-Gipfel in Madrid klären, wann die nächste Runde sein wird und wann wir beitreten. Meiner Meinung nach muß die EU verstehen, daß Europa nicht mit Polen oder Tschechien endet und das Baltikum dazugehört. Allerdings muß sich auch die EU strukturell verändern. Im Augenblick ist sie ein sehr schwaches Gebilde, was an einigen Ecken einfach nicht zusammenpaßt. Was hat beispielsweise Finnland mit Portugal zu schaffen? Die EU müßte sich stärker regional entwickeln. Wenn sie das täte, hätte das Baltikum eine gute Chance, über die Kooperation mit den skandinavischen Ländern einen Weg nach Brüssel zu finden. Interview: Eva-Clarita Onken