Die Balten bleiben draußen vor der Tür

Estland, Lettland und Litauen haben sich längst abgeschminkt, in der ersten Runde der Nato-Osterweiterung mit dabeizusein. Ihre Hoffnung liegt jetzt bei der EU. Doch auch eine baldige Aufnahme in die Union ist ungewiß  ■ Von Eva-Clarita Onken

„Was hilft uns das Versprechen von Clinton und Co., daß die Tür zur Nato offenbleibt, wenn davor der russische Wachhund sitzt?“ kommentierte im Mai die lettische Tageszeitung Diena die Debatten der letzten Wochen um die Nato- Osterweiterung und die Position Rußlands.

Die baltischen Republiken Estland, Lettland und Litauen fühlen sich wieder einmal allein gelassen. Denn wenn Dienstag und Mittwoch auf dem Nato-Gipfel in Madrid darüber entschieden wird, welche Länder in der ersten Runde in das Militärbündnis aufgenommen werden sollen, sind die drei Ostseerepubliken bestimmt nicht dabei. Der Grund dafür ist weniger militärischer Art. Vielmehr befürchtet der Westen die Reaktion Rußlands. Am Rande des G-8- Treffens in Denver bestärkte der russische Außenminister Jewgeni Primakow die Erklärung Boris Jelzins, Rußland werde im Falle einer Erweiterung des Bündnisses auf das Territorium der ehemaligen Sowjetunion seine Beziehungen zur Nato „überdenken“.

Nach wie vor ist die Zukunft der drei Ostseestaaten vom guten Willen ihres östlichen Nachbarns abhängig. Da beruhigt es auch nicht, wenn Primakow erklärt, das Baltikum sei von Rußland nicht bedroht: „Wir würden“, so Primakow über Rußlands Haltung im Falle einer Nato-Erweiterung auf das Baltikum, „nicht wie die frühere UdSSR 1968 bei den Ereignissen in der Tschechoslowakei reagieren.“ Dieser Bezug auf den Einmarsch der Warschauer-Pakt- Truppen in Prag erscheint wie ein Wink mit dem Zaunpfahl und zeigt, daß sich das heutige Rußland nicht vollständig von Hegemonialansprüchen auf das Baltikum verabschiedet hat.

Derartige Äußerungen bestärken nur die baltischen Ängste, auch wenn, wie der lettische Politologe Varis Vagotinš erklärt, keine direkte Bedrohung von Rußland ausgehe. Sorge bereite ihm vielmehr der große Einfluß Rußlands auf die westlichen Nato- und EU-Erweiterungspläne. „Rußland ist nur dann eine Bedrohung für uns, wenn der Westen das zuläßt. Über dessen Haltung bin ich mir allerdings ganz und gar nicht sicher.“

Vor allem über die deutsche Haltung sind viele Balten enttäuscht. Außenminister Klaus Kinkel bezeichnete Deutschland stets ausdrücklich als „Anwalt der Balten“. Auf internationalem Parkett treten jedoch allenfalls die Skandinavier für sie ein.

Mit Unverständnis registrieren baltische Politiker auch, daß Helmut Kohl die drei Staaten in den sieben Jahren ihrer Unabhängigkeit nicht einmal besucht hat. Der diesjährige Ostseegipfel, der ursprünglich im Juni in Riga stattfinden sollte, mußte wegen deutscher und russischer Einwände gegen Zeitpunkt und Ort verschoben werden. Kohl begründete dies damit, daß die innenpolitische Lage im Baltikum noch nicht gefestigt sei. Vor allem die große russischsprachige Minderheit in Estland und Lettland mache ihm Sorgen.

Diese sind jedoch unberechtigt. Zwar gibt es in beiden Staaten immer wieder Spannungen mit den meist in den Sowjetjahren eingewanderten Russen. Doch rechtlich gesehen haben beide Republiken, wenn auch mit einigen Schwierigkeiten, den Weg für eine gesellschaftliche Integration geebnet. Die Staatsbürgerschafts- und Minderheitenfrage ist gemäß den EU- Richtlinien geregelt. Für die Balten ist der große russischsprachige Bevölkerungsteil – in Lettland beträgt er über 40, in Estland über 30 Prozent – ein weiterer Grund, auf westliche Sicherheitsgarantien für den Fall russischer Einmischungsversuche zu pochen.

Mit einem Nato-Beitritt schon in der ersten Runde rechnet längst niemand mehr. Dennoch werden die nächsten sechs Monate entscheidend für die drei Baltenrepubliken sein, denn Ende des Jahres werden die Kandidaten für den EU-Beitritt benannt und erste Verhandlungen aufgenommen. Alle drei Republiken versprechen sich gute Chancen auf einen baldigen Beitritt.

Wirtschaftlich haben sich die Republiken weitgehend von den alten Sowjetstrukturen abgenabelt. In Estland spricht man von einem kleinen „Wirtschaftswunder“ in den vergangenen sieben Jahren, und auch Lettlands Haushaltslage hat sich nach der großen Bankenkrise im Sommer 1995 wieder erholt, und die Privatisierung ist fast abgeschlossen.

Doch gibt es im Baltikum, wie in allen Transformationsstaaten Osteuropas, nach wie vor viele Probleme. So ist das Renten- und Sozialsystem völlig unzureichend, und die soziale Schere klafft auseinander. Noch sind auch die demokratischen Institutionen wenig gefestigt. Die Parteien ähneln eher „Klubs oder Brüderschaften“, wie Lettlands Ministerpräsident Andris Škele kürzlich bemerkte. Immer wieder sind Parlamentarier in Korruptionsskandale verwickelt. Die landwirtschaftlichen Betriebe sind trotz der Privatisierung vor allem in Litauen und Lettland äußerst marode und rückständig.

Doch die 1993 in Kopenhagen beschlossenen EU-Aufnahmekriterien, eine demokratische Grundordnung und eine funktionsfähige Marktwirtschaft, sind erfüllt. Dies verkünden die baltischen Außenminister einhellig. Die Esten scheinen sich aber Sorgen zu machen, daß die beiden südlichen Nachbarn auf dem Weg in die EU ein Klotz am Bein sein könnten.

Estlands Außenminister Toomas H. Ilves betonte kürzlich, sein Land werde auch allein der EU beitreten. Das Baltikum dürfe nicht immer als homogener Block betrachtet werden, es gebe große Unterschiede in der Entwicklung. Auch der estnische Präsident Lennart Meri forderte, bei der bevorstehenden Evaluation für den EU- Beitritt müsse „jedes Land nach seinen individuellen Leistungen beurteilt werden“. Er betonte, dadurch werde die baltische Kooperation nicht gefährdet.

In Litauen ist man da offenbar anderer Ansicht. Auf dem Treffen der baltischen Ministerpräsidenten am 12. Juni in Vilnius weigerte sich der litauische Ministerpräsident Gediminas Vagnorius, eine von Estland und Lettland vorgeschlagene Erklärung zu unterstützen, nach der auch der Beitritt nur eines der drei Staaten in die EU begrüßt werde. Die baltischen Republiken dürften nur gemeinsam der EU beitreten, betonte er. Aus baltischer Sicht wäre eine Absage der EU vor allem eine geopolitische Entscheidung und eine Rücksichtnahme des Westens Rußland gegenüber, die auf wenig Verständnis stoßen würde.