Noch immer keine Spur von der neuen Nato

Heute will die Nato in Madrid die neuen Beitrittskandidaten aus dem Kreis der osteuropäischen Staaten benennen. Die Frage nach Reformen des Bündnisses wird auch bei diesem Gipfel wieder einmal unbeantwortet bleiben  ■ Aus Madrid Andreas Zumach

Seit Monaten angekündigt war ein „Gipfel der Einigkeit“ zur Präsentation einer „neuen Nato“. Doch wenn die Staats- und Regierungschefs der 16 Mitgliedstaaten heute morgen in Madrid zu ihrer ersten Arbeitssitzung zusammenkommen, gibt es bei keinem der drei Themen, zu denen Beschlüsse geplant waren, einen Konsens. Und das wird sich auch bis zum Abschluß des Gipfels am Mittwoch nachmittag nicht ändern.

Entscheiden wird der Gipfel lediglich über die osteuropäischen Mitgliedsbewerber, mit denen über einen Beitritt bis spätestens zum 50. Geburtstag der Nato im April 1999 verhandelt werden soll. Seit der eindeutigen Festlegung der USA Anfang Juni auf Polen, Ungarn und die Tschechische Republik ist klar, daß unter den insgesamt zwölf Beitrittsaspiranten lediglich diese drei Staaten mit einem Jawort des Gipfels rechnen können. Nur diese drei Länder könnten die für eine Nato-Mitgliedschaft erforderlichen „militärischen Standards“ in einem „vertretbaren Zeitraum erfüllen“, begründete US-Präsident Bill Clinton am Sonntag die Haltung Washingtons.

Europäer sind vom USA-Diktat frustriert

Laut einer gestern bekanntgewordenen vertraulichen Nato-Studie stufen die Experten in der Brüsseler Zentrale der Allianz die „militärische Befähigung Ungarns und der Tschechischen Republik“ allerdings als „völlig unzulänglich“ ein und erheben auch Vorbehalte gegenüber Polen. „Wenn es nur um die militärische Kompetenz ginge, würden wir die Polen, die Rumänen und wahrscheinlich die Slowenen auswählen“, erklärte ein Nato-Vertreter hierzu gegenüber dem britischen Guardian. Doch Erklärungen von Bundesaußenminister Klaus Kinkel und anderen Regierungsmitgliedern westeuropäischer Nato-Staaten aus den letzten Tagen, wonach die Entscheidung des Madrider Gipfels über neue Mitglieder „noch offen“ sei und auch Rumänien und Slowenien noch zur Debatte stünden, haben mit der Realität nichts zu tun.

In der Nato herrscht Konsenszwang. Derartige Erklärungen reflektieren lediglich die Frustration der Europäer über das Diktat der USA sowie die eigene Uneinigkeit und Schwäche. Kanada und acht europäische Staaten – darunter federführend Frankreich und die anderen „Südländer“ Italien, Spanien, Portugal, Griechenland und die Türkei – plädieren für die Erweiterung um vier bis fünf Staaten. Großbritannien und die meisten nord- und zentraleuropäischen Nato-Staaten teilen die Haltung der USA. Deutschland legte sich – wie meistens bei Fragen, die vor allem zwischen Paris und Washington umstritten sind – nicht fest. Die Bundesregierung sei „offen“ für die Optionen drei, vier oder fünf neuer Nato-Mitglieder, erklärte Kinkel am Sonntag.

Kinkel sowie Verteidigungsminister Volker Rühe forderten ein „eindeutiges Signal“ für eine zweite Beitrittsrunde in der Gipfelerklärung. Doch auch dazu soll es nach dem Willen der USA nicht kommen. Washington will in der Erklärung jegliche Zusage oder Terminfestlegung vermeiden und für den nächsten Nato-Gipfel im April 1999 lediglich eine „Neubewertung der Lage“ ankündigen. Allerdings möchte die Clinton- Administration die Beitrittsoption insbesonders für die drei baltischen Staaten ausdrücklich offenhalten, wie Außenministerin Madeleine Albright auf dem Flug nach Madrid erklärte.

Dies dürfte neuen Ärger mit Rußland schaffen, dessen Präsident Boris Jelzin bereits wegen der Bedenken gegen die Nato-Ostausweitung seine Teilnahme am morgigen zweiten Gipfeltag absagte. Äußerungen des kanadischen Premierminister Jean Chretien geben unterdessen einen Vorgeschmack auf den Streit über die Kosten der Nato-Ostausweitung, der nach dem Madrider Gipfel voll ausbrechen dürfte. Chretien erklärte, Kanada werde sich in den nächsten zwölf Jahren mit jährlich maximal 12,5 Millionen Mark an den Kosten beteiligen. Die USA veranschlagen den Beitrag Kanadas hingegen mit jährlich 61,2 Millionen Mark.

Die zunächst für Madrid angekündigte Entscheidung über eine neue Kommandostruktur der Nato wird erneut verschoben. Europäischer Pfeiler der Nato: Ein frommer Wunsch

Auch nach fast zweijähriger Debatte gibt es keine Einigung über die künftige Besetzung des für den Mittelmeerraum zuständigen Südkommandos. Frankreich und andere „Südländer“ beanspruchen dieses Kommando für die Europäer. Washington will das Kommando, dem auch die mit Nuklearwaffen bestückte sechste Flotte der USA untersteht, nicht aufgeben und lehnt jegliche substantielle Beteiligung der Europäer ab. Frankreich hat deshalb seine angekündigte Rückkehr in die militärische Infrastruktur der Nato erneut verschoben und macht sie von einer Einigung mit Washington über das Südkommando abhängig. Dasselbe gilt für Spanien, dessen Regierung diese Einigung nun „bis Ende dieses Jahres“ erhofft.

Ebenfalls ungelöst bleibt die Frage, unter welchen genauen Umständen und Regeln die Europäer künftig im Rahmen der Westeuropäischen Union (WEU) – ohne Beteiligung der USA, aber unter Nutzung von der Nato unterstellter Truppen und Waffensysteme – eigenständig handeln können. Einen entsprechenden Grundsatzbeschluß hatte der Nato-Rat der 16 Außenminister im Juli letzten Jahres in Berlin getroffen.

Damit existiert die in Bonn, Paris und anderen westeutopäischen Hauptstädten vielbeschworene „europäische Verteidigungsidentität“ und der auf zahlreichen Nato- Tagungen der letzten Jahre geforderte „europäische Pfeiler in der Nato“ weiterhin nur in der Phantasie der Politiker.