Staat ohne Präsident

■ Schluß mit der Trauer um Kim Il Sung! Wer wird Präsident in Nord-Korea?

Berlin (taz) – Glaubt man der nordkoreanischen Propaganda, dann ist der vor drei Jahren verstorbene Staatspräsident Kim Il Sung der meistbesuchte Tote der Welt. 59.716 Millionen Menschen hätten die Statue des „geliebten Führers“ neben dessen Mausoleum seit seinem Ableben besucht, hieß es kürzlich aus der Hauptstadt Pjöngjang. Doch: Die Demokratische Volksrepublik Korea hat nur 25 Millionen EinwohnerInnen.

Nord-Koreas Führung liebt die Superlative. Rechtzeitig zum gestrigen Todestag des Präsidenten ließ sie einen 90 Meter hohen Obelisken errichten, gewidmet dem „ewigen Leben“ Kim Il Sungs. Das Motto gibt Anlaß zu Spekulationen über die Nachfolgefrage. Gespannt lauschten gestern Journalisten dem nordkoreanischen Rundfunk. Der vermeldete, die seit nunmehr drei Jahren dauernde Staatstrauer sei beendet und ... – nichts! Dabei war angenommen worden, nun endlich werde Kim Il Sungs Sohn Kim Jong Il (55) die Nachfolge seines Vaters als Staatschef übernehmen. Doch zwar wurde der Filius bei der gestrigen Zeremonie kräftig gelobt, aber als Amtsbezeichnungen fielen nur Oberbefehlshaber der Armee und Präsident der Nationalen Verteidigungskommission.

Seit Kim Il Sung im Alter von 82 Jahren starb, kursieren Gerüchte über einen Machtkampf in Nord- Koreas Führung. Offiziell hieß es, die Pietät gebiete es seinem Sohn, mit der Amtsübernahme zu warten. Bei der gestrigen Zeremonie war auch Kim Jong Il zugegen. Doch für das Programmatische war Außenminister Kim Jong Nam zuständig. Der versuchte es mit alten Parolen: Für die desolate Wirtschaftslage des vor einer Hungerkatastrophe stehenden Landes seien „imperialistische und reaktionäre Kräfte“ verantwortlich. Deren südkoreanische Ausprägung hatte Pjöngjang zuvor 50.000 Tonnen Nahrungsmittel zugesagt.

Doch daß die dringend benötigte Hilfe auch bei ihren Empfängern ankommt, ist nicht garantiert. In einem nordkoreanischen Hafen hätten sich hungrige Soldaten mit vorgehaltener Waffe 5.000 Tonnen Mais angeeignet, berichtete kürzlich eine portugiesische Zeitung. Und auch aus dem Landesinneren mehren sich Berichte, die auf ein Zusammenbrechen der staatlichen Ordnung schließen lassen. Zugpassagiere würden auf den Dächern reisen und, bevor sie am Zielbahnhof nach ihrem Ticket gefragt werden könnten, über die Gleise verschwinden. Bisher galten solche Verhaltensweisen im straff geführten Nord-Korea als unmöglich.

Als neues Datum für den Amtsantritt von Kim Jong Il wird jetzt der 9. September gehandelt, der Jahrestag der Staatsgründung. Eine Quelle für solche Spekulationen sind japanische Geschäftsleute. Sie hörten den Termin von Nordkoreanern, die vor der Feier zum Einkaufen nach Tokio geschickt wurden. Ihr Kaufverhalten gibt einen eigenen Einblick in Nord-Koreas Bedürfnisse: Begehrtestes Shopping-Objekt war Unterwäsche. Thomas Dreger