■ Das Verkehrskasperletheater als moralische Anstalt
: Räuberfreie Innenstadt

„Erst links, dann rechts, dann wieder links! Und dann über die Straße gehen!“ So wird es den Kindern beigebracht, seit es Automobile gibt. Und seit Kinder von diesen Automobilen überfahren werden, gibt es in den Schulen Verkehrserziehung.

Meine Bekannte Marion ist hauptamtlich Puppenspielerin. Sobald sie irgendwo mit ihrem Puppentheater auftaucht, nerven die Kinder sie mit der Frage: „Bist du der Verkehrskasper?“ Ist sie nicht. Hänsel und Gretel, Schneewittchen und die sieben Zwerge, das ist sie. Aber nie Verkehrskasper. Marion regt sich ziemlich darüber auf, daß viele Eltern ihre Kinder erst mit Kultur konfrontieren, wenn die Polizei sie ihnen bringt.

Jetzt ist sie selbst Zeugin und Opfer der Polizeikultur geworden, zwangsweise. Denn sie macht nebenamtlich ein Praktikum an einer Schule. Dort mußte sie mit ansehen, wie vier Polizisten in Uniform die Kinder mit Verkehrskasperletheater belehrten.

Als ich zur Schule ging, gab es nur einen puppenspielenden Uniformträger, und der sah selber aus wie der Verkehrskasper. Es war auch immer lustig. Bis auf den Tag, an dem er uns erzählte, wie Kinder einen Stein von einer Autobahnbrücke in die Windschutzscheibe eines fahrenden Wagens geworfen hatten. Das Fahrzeug war von der Straße abgekommen, eine Frau starb, und ein Mann wurde querschnittsgelähmt. Diese Geschichte verfolgt mich bis heute. Immer wenn ich unter einer Autobahnbrücke durchfahre, ziehe ich unwillkürlich den Kopf ein. Man sollte Polizeikasper verbieten.

Marion berichtete, daß die vier Polizisten eine Art High-Tech- Bühne aufbauten mit einer Telefonzelle in Miniformat (mit Kartentelefon drinnen), einer Ampel, die schneller die Farbe wechselte als der Referendar, einem Zebrastreifen, den man zusammenrollen konnte, und einem Polizeiauto – brrm brrrm. Ihre Verkehrserziehungs-Story, berichtete Marion, war dann leider ziemlich moralingesäuert: Der Räuber wollte im Park endlich einmal seine Ruhe haben und schickte die Kinder zum Spielen auf die Straße. „Da könnt ihr Lärm machen!“ Ach, das könnte schön sein: Die Kinder spielen auf der Straße, und der Räuber läßt den lieben Gott in der öffentlichen Grünanlage einen guten Mann sein.

Aber das Kasperledramolett lief erwartungsgemäß dann eben doch auf eine räuberfreie Innenstadt hinaus. Natürlich holte der Verkehrskasper die Kinder von der Straße, und der Räuber wurde festgenommen.

Marion sagte, sie hätte die Gelegenheit besser genutzt und die Kinder auf eine autofreie Innenstadt vorbereitet. Außerdem fand sie es immer schon ungerecht, daß die Bösewichte in den Geschichten so schlecht wegkommen. Amnestie für Petrosilius Zwackelmann! Ich erinnerte sie daran, daß in ihren Stücken die Hexe auch jedesmal im Ofen landete. Sie erklärte mir nachsichtig, die innere Bildwelt der Kinder finde ihr entsprechendes Außenbild in den ursprünglichen Märchen der Brüder Grimm. Und das sei schließlich etwas ganz anderes als ein Stück, das seinen tieferen Sinn einzig darin habe, daß Kinder erst nach links, dann nach rechts und dann wieder links gucken, bevor sie über eine Straße gehen.

Nach dem Verkehrserziehungskasperletheater stritten sich Marion und die Lehrerin darüber, ob die Schüler dabei tatsächlich etwas gelernt hätten. Ja, fand die Lehrerin. Nein, fand die Puppenspielerin. Dann standen sie mit den Kindern an den Händen vor dem Zebrastreifen: „Wie machen wir, bevor wir die Straße überqueren?“ fragte die Lehrerin. „Tri, tra, trallala!“ strahlte ein Junge. Touché! Ulrich Wendt