Der romantische Urökologe

„Natürlich und gesund wie ein Rebhuhn“. Wer nicht mit Frauen kann, versucht es halt mit Zwergeichen: Die Tagebücher Henry David Thoreaus, Philosoph und Landvermesser  ■ Von Friedrich Balke

Anders als der arme B.B. ist Henry David Thoreau nie in einer Asphaltstadt daheim gewesen. Thoreau, als dessen „Meisterwerk“ „Walden or Life in the Woods“ gilt, hielt es nicht einmal in seinem Geburtsort, dem 2.000- Seelen-Dorf Concord, Massachusetts, aus. So mag man ihn einen in der Nachfolge Rousseaus stehenden Stadtflüchtigen nennen, dem man hierzulande offenbar zutraut, daß sein Werk die Suche nach neuen „spirituellen Wegen“ befördern könnte.

Die Tagebucheintragungen aus dem Zeitraum von 1837–1861, die die Herausgeberin und Übersetzerin Susanne Schaup aus mehr als 14 Bänden mit insgesamt 7.000 Druckseiten zusammengestellt hat, fordern in ihrer forcierten Bekenntnishaftigkeit Spott und Polemik geradezu heraus. Andererseits: Thoreau, Nachfahre französischer Hugenotten, langjähriger Freund des Philosophen Ralph Waldo Emerson, von Beruf Hauslehrer und Landvermesser, daneben Publizist und gelegentlicher Vortragsredner, vor allem aber: „kauziger Waldläufer“, spricht über weite Strecken für sich. Nun ist der „Rückzug in den Wald“ eine ausgesprochen ambivalente kulturelle Geste. Elias Canetti hat daran erinnert, daß in „keinem modernen Lande der Welt das Waldgefühl so lebendig geblieben ist wie in Deutschland“ – allerdings waren es hier gerade nicht ökopazifistische, sondern militaristische Leidenschaften, die das „Rigide und Parallele der aufrechtstehenden Bäume“ bei Waldgängern auslöste. Der deutsche Wald war lange der „marschierende“.

Mit schwarzer Waldesromantik hat Thoreau nichts im Sinne. Fließen für die Deutschen der ersten Jahrhunderthälfte Heer und Wald auf jede Weise zusammen, so für den Amerikaner Thoreau Wald und Familie. Thoreaus Wald ist alles andere als tropisch und wuchernd, sondern er ist ein Refugium für die „gepeinigte Seele“. Kurz: Als es mit den Frauen Probleme gab, beschloß Thoreau schließlich, nur noch Bäume zu lieben. „Sein Liebesbekenntnis zu einer Zwergeiche“, so informiert uns einfühlsam die Herausgeberin, „gehört zu den Kostbarkeiten dieses an wesenhaften Begegnungen reichen Tagebuchs.“ Thoreau findet etwas nüchternere Worte dafür: „Ich liebe die Zwergeiche und könnte sie in meine Arme schließen, wie sie in ihrem spärlichen Blätterkleid aus dem Schnee ragt und mir leise zuraunt (...) Hart wie Eisen, rein wie die Luft, fest wie die Tugend, lieblich und unschuldig wie ein Mädchen ist die Zwergeiche. In dem Maße, wie ich sie kenne und liebe, bin ich natürlich und gesund wie ein Rebhuhn (...) Endlich hat sich eine Geliebte gefunden. Ich habe mich in eine Zwergeiche verliebt!“

Wenn wir Thoreau, dem sein Vater eine Bleistiftmanufaktur hinterließ, auf seinen permanent protokollierten Streifzügen durch die „Wildnis“ begleiten, fällt auf, daß er eine gewisse Armut dieser Natur nicht verbergen kann. Zum Beispiel wimmelt es nur so von Schnaken und Mücken, Rohrdommeln, Erdkröten, Unken, Bisamratten, Baumlaubfröschen, Schildkröten, Ziegenmelkern, Leuchtkäfern, Faltern, Rothörnchen, Käuzchen, Fischreihern, Spechtmeisen, Purpurfinken, Wildgänsen, Spottdrosseln und so weiter. Lange habe ich über eine Spezies der Muscheln nachdenken müssen, die „Muschelforscher“, so Thoreau in seiner Eintragung vom 18.11.1853, Littorales nennen, weil sie an den Strand geschwemmt werden: Wenn man dem Wort einen bestimmten Buchstaben hinzufügt, errät man, welcher Art diese Gedanken waren. „Unkeuschheit und Armut sind unsere Gelübde“, heißt es in Brechts „Ballade von den Abenteurern“: Die „Armut“, die Thoreau so beredt verteidigt, ist selbstverständlich mit strikter Keuschheit gepaart.

Ein Aussteiger, aber kein Abenteurer

Zweifellos ist Thoreau ein „Aussteiger“, aber er gehört bestimmt nicht zu den „Abenteurern“, von denen es in der bereits erwähnten Ballade Brechts heißt, daß sie „lange das Dach, nie den Himmel, der drüber war“, vergessen haben. Für Thoreau ist es nämlich charakteristisch, daß er die Natur, durch die er spaziert, von vornherein in ein Haus verwandelt, in dem er sich sicher vor einer Welt fühlt, deren unüberschaubare Komplexität und hemmungslose Dynamik ihn zutiefst ängstigt. Der Himmel, der so poetisch beredet wird, ist bloß ein (schützendes) Dach, das Bild der Natur ist das einer adretten, treusorgenden Hausfrau: „In ihrer Wange überwiegt Frische, in ihrem Gewand die Reinlichkeit. (...) Die Natur rührt ständig ihren Besen – in ihrem Haus gibt es keine Rumpelkammer, keinen Mülleimer.“

Thoreaus protoökologisches Denken reagiert auf die Angst des 19. Jahrhunderts angesichts des Verlusts aller naturalen oder religiösen „Stabilitätsgarantien“: „Was taten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, vorwärts, nach allen Seiten?“ Während bei Nietzsche die Einsicht in die umfassende Denormalisierung des modernen, „losgelösten“ Lebens einen spezifischen Enthusiasmus freisetzt, regiert bei Thoreau nackte Angst, die sich in der „Natur“ eine idyllische Hochsicherheitszone phantasiert: „Das Leben, das die Gesellschaft mir andienen möchte, ist so künstlich und komplex, es ruht auf so schwachen Stützen und kracht am Ende mit Sicherheit zusammen.“

Thoreau ist denn auch kein fröhlicher Wissenschaftler, kein „Furchtloser“ oder gar ein „Prinz Vogelfrei“ (daran ändern alle Vögel nichts, die durch seine Tagebücher fliegen), sondern ein verzweifelter Religionsstifter. Die Schärfe seiner Polemik gegen die etablierten Kirchen kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß er in der Natur nur eines sucht: den lieben Vater, der bekanntlich überm Sternenzelt wohnen muß.

Kein Blut-und- Boden-Denken

Der Herausgeberin ist dafür zu danken, daß sie auch solche „unerfreulichen“ Passagen in die Auswahl aufgenommen hat, in denen der Wunsch nach definitiven Stabilitäten „faschistisch“ zu schillern beginnt. So muß der Geist gegen die Gefahr von „Verschmutzungen“ („Unrat“) geschützt werden. Es sei wichtig, „geistige Keuschheit zu bewahren“, und das Beispiel, das Thoreau gibt, um die Notwendigkeit dieser Keuschheit zu demonstrieren, ist deshalb so symptomatisch, weil es schon wenig später zur soziologisch anerkannten, statistisch meßbaren Normalität moderner Gesellschaften zählen wird: Kriminalität. Die „Einzelheiten eines einzigen Kriminalfalls“ in sein Denken aufzunehmen, käme einer Entweihung dieses „innersten Heiligtums“ gleich: „Wenn ich schon ein Kanal oder ein Durchgang sein soll, dann für die Gebirgsquellen, für die Ströme des Parnaß, nicht für die Kloaken der Stadt.“

Wohlgemerkt: weder ist der Thoreausche Diskurs als solcher „faschistisch“, noch ist es Thoreau als Person. Schon sein unerschrockenes politisches Engagement im Kampf gegen die Sklaverei und sein unmißverständlicher Anti-Etatismus – Thoreau lancierte die Formel vom „zivilen Ungehorsam“ in einer gleichnamigen Schrift aus dem Jahre 1849 – verbieten solche Etikettierungen; aber die Gehirnwäsche, zu der er sich verurteilt, gehört zweifellos nicht zu jenen Botschaften, „die besonders in unsere Zeit hineinsprechen“. Für die Koppelung von „Natur“ mit psychischer und kultureller „Gesundheit“, wie sie Thoreau vornimmt, ist diese selbstverordnete Gehirnwäsche aber durchaus konstitutiv. Die Sucher nach einer „ökologischen Spiritualität“, die diesen Preis nicht zu zahlen bereit sind, seien deshalb auf die Wanderungen von Büchners Lenz und auf die Ratschläge Brechts für das „Klettern in Bäumen“ und für das „Schwimmen in Seen und Flüssen“ verwiesen, das auch Thoreau so schätzte. Denn erst wenn die Vögelein im Wald gefressen sind, erschließt sich den Bewohnern der Asphaltstädte, die wir ja alle sind, die „schwarze“ Poesie einer Natur, in der für den lieben Gott und die Heilige Familie kein Platz mehr ist.

Henry David Thoreau: „Aus den Tagebüchern 1837–1861“. Herausgegeben und übersetzt von Susanne Schaup, Tewes Verlagsbuchhandlung, 293 Seiten, 39 DM.